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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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nach erprobten Grundsätzen und Einrichtungen, findet deren in Hülle und
Fülle. Wenn er freilich Eile hat, kann ihm über dem Suchen einmal die
Geduld ausgehen. Das Gold bewährter armenpflegerischer Weisheit muß
hier aus dem Sande werthloser, gesetzlicher und administrativer Bestimmungen
erst gleichsam herausgewaschen werden. Der betheiligte Leser wird es uns
daher wahrscheinlich danken, wenn wir seiner Wißbegierde durch ein paar
flüchtige Fingerzeige zu Hilfe kommen.

Die practische Armenpflege sondert sich ziemlich scharf nach Stadt und
Land. Auf dem Lande findet man an vielen Orten noch große Hartherzigkeit
gegen die Armuth, aus dem bekannten selbstsüchtigen Geize der Bauern ent¬
springend, die dort die Predigt des Judenthums und Christenthums von
der unbedingten Verdienstlichkeit der Almosen noch einigermaßen angebracht
erscheinen läßt. In allen größeren Städten dagegen ist die Stimmung,
welcher es vornehmlich entgegenzuwirken gilt, die des leichtfertigen Gebens
an "verschämte" oder unverschämte Arme; worauf es da vor allem ankommt,
ist die Ersetzung der hergebrachten alten Almosenwirthschaft durch intelligente
persönliche Fürsorge. Damit ist nicht gesagt, daß dieses Ziel auf dem Lande
nicht auch schon ins Auge zu fassen wäre. Es wird am ehesten in gewissen
dichtbevölkerten Strichen des Königreichs Sachsen ins Auge gefaßt werden
können, die, was ländliche Armenpflege betrifft, an der Spitze der Entwicke¬
lung stehen, nicht blos in Deutschland, sondern überhaupt. Haben sie das
Bezirksarmenhaus (Werkhaus) auch den Engländern abgesehen, d. h. die
sittlich, wirthschaftlich und gesundheitlich heilsame Concentrirung der öffent¬
lich zu erhaltenden Individuen einer Mehrzahl von Gemeinden in einer ein¬
zigen großen Anstalt, so ist dagegen die Centralisation der Armenpflege über¬
haupt in einem größeren Verbände, wie die Amtslandschaft Meißen sie an¬
gebahnt hat, eine originale Neuerung, deren Verdienst kaum überschätzt wer¬
den kann. Es genügt zwar keineswegs, das Wort "größerer Verband" aus¬
zusprechen und darauflos zu centralisiren. Alles kommt auf die Art der
Arbeitstheilung zwischen dem Verbände und den einzelnen Gemeinden an,
auf die specielle Organisation, denn es gibt dabei eine gefährliche Klippe zu
umschiffen, die Sucht der verbundenen Gemeinden, auf gegenseitige Kosten
ihre Armen zu überfüttern, oder wenigstens wegen des geschwächten Zu¬
sammenhangs zwischen Pflege und Beiträgen das gemeinschaftliche Werk
fahrlässiger zu thun. Aber wie es scheint, ist im Meißen'schen das Problem
glücklich gelöst; und auf jeden Fall ist man seiner Lösung dort erheblich
näher gekommen. Adoption des englischen Armenarbeitshauses empfiehlt
auch ein dänischer Arzt Namens Krebs, der sich der Reform der Armenpflege
auf der Insel Seeland mit großem Eifer und Erfolge angenommen hat. Ge¬
wiß hat es seine Vorzüge vor den roh eingerichteten und nachlässig verwal-


nach erprobten Grundsätzen und Einrichtungen, findet deren in Hülle und
Fülle. Wenn er freilich Eile hat, kann ihm über dem Suchen einmal die
Geduld ausgehen. Das Gold bewährter armenpflegerischer Weisheit muß
hier aus dem Sande werthloser, gesetzlicher und administrativer Bestimmungen
erst gleichsam herausgewaschen werden. Der betheiligte Leser wird es uns
daher wahrscheinlich danken, wenn wir seiner Wißbegierde durch ein paar
flüchtige Fingerzeige zu Hilfe kommen.

Die practische Armenpflege sondert sich ziemlich scharf nach Stadt und
Land. Auf dem Lande findet man an vielen Orten noch große Hartherzigkeit
gegen die Armuth, aus dem bekannten selbstsüchtigen Geize der Bauern ent¬
springend, die dort die Predigt des Judenthums und Christenthums von
der unbedingten Verdienstlichkeit der Almosen noch einigermaßen angebracht
erscheinen läßt. In allen größeren Städten dagegen ist die Stimmung,
welcher es vornehmlich entgegenzuwirken gilt, die des leichtfertigen Gebens
an „verschämte" oder unverschämte Arme; worauf es da vor allem ankommt,
ist die Ersetzung der hergebrachten alten Almosenwirthschaft durch intelligente
persönliche Fürsorge. Damit ist nicht gesagt, daß dieses Ziel auf dem Lande
nicht auch schon ins Auge zu fassen wäre. Es wird am ehesten in gewissen
dichtbevölkerten Strichen des Königreichs Sachsen ins Auge gefaßt werden
können, die, was ländliche Armenpflege betrifft, an der Spitze der Entwicke¬
lung stehen, nicht blos in Deutschland, sondern überhaupt. Haben sie das
Bezirksarmenhaus (Werkhaus) auch den Engländern abgesehen, d. h. die
sittlich, wirthschaftlich und gesundheitlich heilsame Concentrirung der öffent¬
lich zu erhaltenden Individuen einer Mehrzahl von Gemeinden in einer ein¬
zigen großen Anstalt, so ist dagegen die Centralisation der Armenpflege über¬
haupt in einem größeren Verbände, wie die Amtslandschaft Meißen sie an¬
gebahnt hat, eine originale Neuerung, deren Verdienst kaum überschätzt wer¬
den kann. Es genügt zwar keineswegs, das Wort „größerer Verband" aus¬
zusprechen und darauflos zu centralisiren. Alles kommt auf die Art der
Arbeitstheilung zwischen dem Verbände und den einzelnen Gemeinden an,
auf die specielle Organisation, denn es gibt dabei eine gefährliche Klippe zu
umschiffen, die Sucht der verbundenen Gemeinden, auf gegenseitige Kosten
ihre Armen zu überfüttern, oder wenigstens wegen des geschwächten Zu¬
sammenhangs zwischen Pflege und Beiträgen das gemeinschaftliche Werk
fahrlässiger zu thun. Aber wie es scheint, ist im Meißen'schen das Problem
glücklich gelöst; und auf jeden Fall ist man seiner Lösung dort erheblich
näher gekommen. Adoption des englischen Armenarbeitshauses empfiehlt
auch ein dänischer Arzt Namens Krebs, der sich der Reform der Armenpflege
auf der Insel Seeland mit großem Eifer und Erfolge angenommen hat. Ge¬
wiß hat es seine Vorzüge vor den roh eingerichteten und nachlässig verwal-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/330>, abgerufen am 11.05.2024.