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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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deten schmutzigen Einzel-Armenhäusern unserer Dörfer. Allein in seiner nähe¬
ren Beschaffenheit, als Zwangswerkhaus, das grundsätzlich alle arbeitsfähigen
Unterstützten ohne Ausnahme in sich fassen und einer strengen Zucht, einer
Art halb schimpflicher Freiheitsberaubung unterwerfen soll, ist es doch offen¬
bar nichts als der Schlußstein der englischen streng ausgeprägten Zwangs¬
armenpflege. Es erneuert gewissermaßen den Zustand der alten Hörigkeit
oder Leibeigenschaft, indem die Staatsgesellschaft den Herrn spielt, dem an
ihre Hilfe appellirenden Armen die Sorge für seine Existenz abnimmt, dafür
aber auch von ihm unbedingte Hingebung und Abhängigkeit fordert. Wo
man nach freieren und menschenwürdigeren Zuständen auch im Armenwesen
strebt, läßt sich das englische Zwangsarbeitshaus nicht einfach copiren. Die
Armenpflege ist ein systematisches Ganzes, in welchem unmöglich der eine
Theil mittelalterlich, der andere modern zugeschnitten sein kann.

Wenn Sachsen sich im Vortrab der Entwicklung ländlicher Armenpflege
befindet, so ist die skandinavische Halbinsel im Hintertreffen. Man sieht daraus
schon, welchen Einfluß die größere oder geringere Dichtigkeit der Bevölkerung
auf den Fortschritt in dieser Richtung übt. Norwegen insbesondere, das
gebirgige menschenarme Bauernland, hat noch nicht einmal die Reihe¬
beherbergung der örtlichen Armen abgeschüttelt, die einst bei allgemein
herrschender Naturalwirthschaft eine Nothwendigkeit war, heute aber ohne
zwingenden Grund den Wirth belästigt und den Gast in jedem' Sinne übel
bettet. Es kommt sogar noch vor, daß eine ganze Armenschule mit dem
Lehrer an der Spitze von Hof zu Hof zieht, um sich dem Bauern in's Nest
zu legen, der Kinder unterrichten zu lassen hat. Alte und kranke Arme
müssen in der gewöhnlichen bittern Rauhigkeit des nordischen Klima's mehre
Male des Jahres die Wohnung wechseln, weil die Frist für den bisherigen
Herbergswirth abgelaufen ist. Hier wäre der Uebergang zu festen Kreis¬
armenhäusern offenbar die dringlichste und segensreichste Reform. Uebrigens
kommt es auch in Deutschland noch vor, daß für jeden Dorfarmen einzeln
durch Umlagen gesorgt wird; z. B. in dem ja gleichfalls dünnbevölkerten
Hannover. Etwas ganz anderes, als die wechselnde Einquartirung aller
der Gemeinde zur Last fallenden Armen bei den Stellenbesitzern, ist die
Ausverdingung, zumal dürftiger Waisen, an dafür Bürgschaften bietende
Familien. Im Gegensatz zu eignen Waisenhäusern, in denen dieselben caser-
nirt sind, wird dieses Verfahren immer allgemeiner. Es beugt gewissen leicht
auszumalenden Gefahren vor und ersetzt dem elternlosen Kinde am ehesten
was ihm fehlt. Selbstverständlich darf es nicht an den Mindestfordernden
geschehen; diese plumpe Form des Ausverdingens kommt denn auch mehr und
mehr überall ab.

So gering die statistische Ausbeute im allgemeinen verhältnißmäßig auch


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deten schmutzigen Einzel-Armenhäusern unserer Dörfer. Allein in seiner nähe¬
ren Beschaffenheit, als Zwangswerkhaus, das grundsätzlich alle arbeitsfähigen
Unterstützten ohne Ausnahme in sich fassen und einer strengen Zucht, einer
Art halb schimpflicher Freiheitsberaubung unterwerfen soll, ist es doch offen¬
bar nichts als der Schlußstein der englischen streng ausgeprägten Zwangs¬
armenpflege. Es erneuert gewissermaßen den Zustand der alten Hörigkeit
oder Leibeigenschaft, indem die Staatsgesellschaft den Herrn spielt, dem an
ihre Hilfe appellirenden Armen die Sorge für seine Existenz abnimmt, dafür
aber auch von ihm unbedingte Hingebung und Abhängigkeit fordert. Wo
man nach freieren und menschenwürdigeren Zuständen auch im Armenwesen
strebt, läßt sich das englische Zwangsarbeitshaus nicht einfach copiren. Die
Armenpflege ist ein systematisches Ganzes, in welchem unmöglich der eine
Theil mittelalterlich, der andere modern zugeschnitten sein kann.

Wenn Sachsen sich im Vortrab der Entwicklung ländlicher Armenpflege
befindet, so ist die skandinavische Halbinsel im Hintertreffen. Man sieht daraus
schon, welchen Einfluß die größere oder geringere Dichtigkeit der Bevölkerung
auf den Fortschritt in dieser Richtung übt. Norwegen insbesondere, das
gebirgige menschenarme Bauernland, hat noch nicht einmal die Reihe¬
beherbergung der örtlichen Armen abgeschüttelt, die einst bei allgemein
herrschender Naturalwirthschaft eine Nothwendigkeit war, heute aber ohne
zwingenden Grund den Wirth belästigt und den Gast in jedem' Sinne übel
bettet. Es kommt sogar noch vor, daß eine ganze Armenschule mit dem
Lehrer an der Spitze von Hof zu Hof zieht, um sich dem Bauern in's Nest
zu legen, der Kinder unterrichten zu lassen hat. Alte und kranke Arme
müssen in der gewöhnlichen bittern Rauhigkeit des nordischen Klima's mehre
Male des Jahres die Wohnung wechseln, weil die Frist für den bisherigen
Herbergswirth abgelaufen ist. Hier wäre der Uebergang zu festen Kreis¬
armenhäusern offenbar die dringlichste und segensreichste Reform. Uebrigens
kommt es auch in Deutschland noch vor, daß für jeden Dorfarmen einzeln
durch Umlagen gesorgt wird; z. B. in dem ja gleichfalls dünnbevölkerten
Hannover. Etwas ganz anderes, als die wechselnde Einquartirung aller
der Gemeinde zur Last fallenden Armen bei den Stellenbesitzern, ist die
Ausverdingung, zumal dürftiger Waisen, an dafür Bürgschaften bietende
Familien. Im Gegensatz zu eignen Waisenhäusern, in denen dieselben caser-
nirt sind, wird dieses Verfahren immer allgemeiner. Es beugt gewissen leicht
auszumalenden Gefahren vor und ersetzt dem elternlosen Kinde am ehesten
was ihm fehlt. Selbstverständlich darf es nicht an den Mindestfordernden
geschehen; diese plumpe Form des Ausverdingens kommt denn auch mehr und
mehr überall ab.

So gering die statistische Ausbeute im allgemeinen verhältnißmäßig auch


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[0331] deten schmutzigen Einzel-Armenhäusern unserer Dörfer. Allein in seiner nähe¬ ren Beschaffenheit, als Zwangswerkhaus, das grundsätzlich alle arbeitsfähigen Unterstützten ohne Ausnahme in sich fassen und einer strengen Zucht, einer Art halb schimpflicher Freiheitsberaubung unterwerfen soll, ist es doch offen¬ bar nichts als der Schlußstein der englischen streng ausgeprägten Zwangs¬ armenpflege. Es erneuert gewissermaßen den Zustand der alten Hörigkeit oder Leibeigenschaft, indem die Staatsgesellschaft den Herrn spielt, dem an ihre Hilfe appellirenden Armen die Sorge für seine Existenz abnimmt, dafür aber auch von ihm unbedingte Hingebung und Abhängigkeit fordert. Wo man nach freieren und menschenwürdigeren Zuständen auch im Armenwesen strebt, läßt sich das englische Zwangsarbeitshaus nicht einfach copiren. Die Armenpflege ist ein systematisches Ganzes, in welchem unmöglich der eine Theil mittelalterlich, der andere modern zugeschnitten sein kann. Wenn Sachsen sich im Vortrab der Entwicklung ländlicher Armenpflege befindet, so ist die skandinavische Halbinsel im Hintertreffen. Man sieht daraus schon, welchen Einfluß die größere oder geringere Dichtigkeit der Bevölkerung auf den Fortschritt in dieser Richtung übt. Norwegen insbesondere, das gebirgige menschenarme Bauernland, hat noch nicht einmal die Reihe¬ beherbergung der örtlichen Armen abgeschüttelt, die einst bei allgemein herrschender Naturalwirthschaft eine Nothwendigkeit war, heute aber ohne zwingenden Grund den Wirth belästigt und den Gast in jedem' Sinne übel bettet. Es kommt sogar noch vor, daß eine ganze Armenschule mit dem Lehrer an der Spitze von Hof zu Hof zieht, um sich dem Bauern in's Nest zu legen, der Kinder unterrichten zu lassen hat. Alte und kranke Arme müssen in der gewöhnlichen bittern Rauhigkeit des nordischen Klima's mehre Male des Jahres die Wohnung wechseln, weil die Frist für den bisherigen Herbergswirth abgelaufen ist. Hier wäre der Uebergang zu festen Kreis¬ armenhäusern offenbar die dringlichste und segensreichste Reform. Uebrigens kommt es auch in Deutschland noch vor, daß für jeden Dorfarmen einzeln durch Umlagen gesorgt wird; z. B. in dem ja gleichfalls dünnbevölkerten Hannover. Etwas ganz anderes, als die wechselnde Einquartirung aller der Gemeinde zur Last fallenden Armen bei den Stellenbesitzern, ist die Ausverdingung, zumal dürftiger Waisen, an dafür Bürgschaften bietende Familien. Im Gegensatz zu eignen Waisenhäusern, in denen dieselben caser- nirt sind, wird dieses Verfahren immer allgemeiner. Es beugt gewissen leicht auszumalenden Gefahren vor und ersetzt dem elternlosen Kinde am ehesten was ihm fehlt. Selbstverständlich darf es nicht an den Mindestfordernden geschehen; diese plumpe Form des Ausverdingens kommt denn auch mehr und mehr überall ab. So gering die statistische Ausbeute im allgemeinen verhältnißmäßig auch 41"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/331>, abgerufen am 04.06.2024.