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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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werden. Es sollte uns sehr wundern, wenn diese Grundzüge einer Organi¬
sation der öffentlichen Armenpflege nicht allenthalben ihre Wirkung thäten.

Die Elberfelder Organisation verhütet, daß die Armenpflege thatsächlich
in die Hände besoldeter Unterbeamten von ganz unzulänglicher Bildung und
Einsicht falle; ihre Träger sind nicht besoldet, und bisher wenigstens haben
sich allemal mehr tüchtige Kräfte zur Uebernahme des Dienstes dargeboten,
als verwendet werden konnten. Aber ernannt werden sie doch von der Stadt¬
verordnetenversammlung, und im Nothfall würde man die Gewählten zwingen,
zu dienen. Die Stadt Kiel dagegen hat ihre öffentliche Armenpflege schon
seit 1793 unbesorgt und zu ihrer völligen Zufriedenheit einer "Gesellschaft
freiwilliger Armenfreunde" anvertraut. Als sie preußisch wurde, scheint man
in Berlin darüber einen gelinden bureaukratischen Schauder empfunden zu
haben; allein da dieser Radikalismus doch schon so alt geworden ist, wäre
es nicht sehr conservativ, ihn mit Gewalt abzuthun, und so wird der merk¬
würdige Vorgang denn wohl fortdauern.

Eher die umgekehrte Entwickelung hat die Art der Erhebung der Mittel
genommen. In Kiel, Rostock, Nürnberg, Hamburg u. f. f.. kurz in Städten
groß und klein, des Südens wie des Nordens, ist man erst im Laufe dieses
Jahrhunderts von der Bestreitung der öffentlichen Armenlast durch freiwillige
Gaben zu Zwangsbeiträgen übergegangen. Einigermaßen parallel damit
läuft das meistens beobachtete erhebliche Wachsthum der Ausgaben neben
Abnahme nicht allein der relativen, sondern der absoluten Unterstütztenzahl.
Hieran trägt natürlich die fast durchgängige Erhöhung aller Preise die
Hauptschuld. Zu Zwangsbeiträgen aber ist man unter dem Drucke dieser
Vermehrung der Last übergegangen, weil die Staatsgesetzgebung sich so gut
wie ausschließlich mit der Regelung der kommunalen Unterstützungspflicht ab¬
gab, und demzufolge die rechtliche Auffassung der Armenpflege im Gegensatze
zur blos moralischen sich vordrängte.

Ist sie eine öffentliche Rechtspflicht, so folgt von selbst, daß ihre Kosten
möglichst gleichmäßig unter die zahlungsfähigen Gemeindeglieder vertheilt wer¬
den müssen. Von dieser Vorstellung beherrscht erzürnt man sich über die
kargen oder gar ganz ausbleibenden Beiträge mancher vermögenden Leute zu
der regelmäßigen Sammlung für die Armen. Man ruft nach dem Steuer¬
zwang, um sie stärker heranzuziehen. Erst gegenwärtig beginnt dieser Geistes¬
zug sich zu wenden. Wo die freiwilligen Beiträge noch bestehen, haben 'sie
einige Aussicht, erhalten zu bleiben, da man anfängt, die Unterstützungs¬
pflicht aus dem ideellen Codex des öffentlichen Rechts zu streichen und theils
in das Privatrecht, theils in das moralische Reich des Gewissens zu verweisen.

Ein paar sehr interessante Städte unter dem Gesichtspunkt der Armen¬
pflege sind Lübeck und Frankfurt am Main. Lübeck, einst das blühende


werden. Es sollte uns sehr wundern, wenn diese Grundzüge einer Organi¬
sation der öffentlichen Armenpflege nicht allenthalben ihre Wirkung thäten.

Die Elberfelder Organisation verhütet, daß die Armenpflege thatsächlich
in die Hände besoldeter Unterbeamten von ganz unzulänglicher Bildung und
Einsicht falle; ihre Träger sind nicht besoldet, und bisher wenigstens haben
sich allemal mehr tüchtige Kräfte zur Uebernahme des Dienstes dargeboten,
als verwendet werden konnten. Aber ernannt werden sie doch von der Stadt¬
verordnetenversammlung, und im Nothfall würde man die Gewählten zwingen,
zu dienen. Die Stadt Kiel dagegen hat ihre öffentliche Armenpflege schon
seit 1793 unbesorgt und zu ihrer völligen Zufriedenheit einer „Gesellschaft
freiwilliger Armenfreunde" anvertraut. Als sie preußisch wurde, scheint man
in Berlin darüber einen gelinden bureaukratischen Schauder empfunden zu
haben; allein da dieser Radikalismus doch schon so alt geworden ist, wäre
es nicht sehr conservativ, ihn mit Gewalt abzuthun, und so wird der merk¬
würdige Vorgang denn wohl fortdauern.

Eher die umgekehrte Entwickelung hat die Art der Erhebung der Mittel
genommen. In Kiel, Rostock, Nürnberg, Hamburg u. f. f.. kurz in Städten
groß und klein, des Südens wie des Nordens, ist man erst im Laufe dieses
Jahrhunderts von der Bestreitung der öffentlichen Armenlast durch freiwillige
Gaben zu Zwangsbeiträgen übergegangen. Einigermaßen parallel damit
läuft das meistens beobachtete erhebliche Wachsthum der Ausgaben neben
Abnahme nicht allein der relativen, sondern der absoluten Unterstütztenzahl.
Hieran trägt natürlich die fast durchgängige Erhöhung aller Preise die
Hauptschuld. Zu Zwangsbeiträgen aber ist man unter dem Drucke dieser
Vermehrung der Last übergegangen, weil die Staatsgesetzgebung sich so gut
wie ausschließlich mit der Regelung der kommunalen Unterstützungspflicht ab¬
gab, und demzufolge die rechtliche Auffassung der Armenpflege im Gegensatze
zur blos moralischen sich vordrängte.

Ist sie eine öffentliche Rechtspflicht, so folgt von selbst, daß ihre Kosten
möglichst gleichmäßig unter die zahlungsfähigen Gemeindeglieder vertheilt wer¬
den müssen. Von dieser Vorstellung beherrscht erzürnt man sich über die
kargen oder gar ganz ausbleibenden Beiträge mancher vermögenden Leute zu
der regelmäßigen Sammlung für die Armen. Man ruft nach dem Steuer¬
zwang, um sie stärker heranzuziehen. Erst gegenwärtig beginnt dieser Geistes¬
zug sich zu wenden. Wo die freiwilligen Beiträge noch bestehen, haben 'sie
einige Aussicht, erhalten zu bleiben, da man anfängt, die Unterstützungs¬
pflicht aus dem ideellen Codex des öffentlichen Rechts zu streichen und theils
in das Privatrecht, theils in das moralische Reich des Gewissens zu verweisen.

Ein paar sehr interessante Städte unter dem Gesichtspunkt der Armen¬
pflege sind Lübeck und Frankfurt am Main. Lübeck, einst das blühende


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[0334] werden. Es sollte uns sehr wundern, wenn diese Grundzüge einer Organi¬ sation der öffentlichen Armenpflege nicht allenthalben ihre Wirkung thäten. Die Elberfelder Organisation verhütet, daß die Armenpflege thatsächlich in die Hände besoldeter Unterbeamten von ganz unzulänglicher Bildung und Einsicht falle; ihre Träger sind nicht besoldet, und bisher wenigstens haben sich allemal mehr tüchtige Kräfte zur Uebernahme des Dienstes dargeboten, als verwendet werden konnten. Aber ernannt werden sie doch von der Stadt¬ verordnetenversammlung, und im Nothfall würde man die Gewählten zwingen, zu dienen. Die Stadt Kiel dagegen hat ihre öffentliche Armenpflege schon seit 1793 unbesorgt und zu ihrer völligen Zufriedenheit einer „Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde" anvertraut. Als sie preußisch wurde, scheint man in Berlin darüber einen gelinden bureaukratischen Schauder empfunden zu haben; allein da dieser Radikalismus doch schon so alt geworden ist, wäre es nicht sehr conservativ, ihn mit Gewalt abzuthun, und so wird der merk¬ würdige Vorgang denn wohl fortdauern. Eher die umgekehrte Entwickelung hat die Art der Erhebung der Mittel genommen. In Kiel, Rostock, Nürnberg, Hamburg u. f. f.. kurz in Städten groß und klein, des Südens wie des Nordens, ist man erst im Laufe dieses Jahrhunderts von der Bestreitung der öffentlichen Armenlast durch freiwillige Gaben zu Zwangsbeiträgen übergegangen. Einigermaßen parallel damit läuft das meistens beobachtete erhebliche Wachsthum der Ausgaben neben Abnahme nicht allein der relativen, sondern der absoluten Unterstütztenzahl. Hieran trägt natürlich die fast durchgängige Erhöhung aller Preise die Hauptschuld. Zu Zwangsbeiträgen aber ist man unter dem Drucke dieser Vermehrung der Last übergegangen, weil die Staatsgesetzgebung sich so gut wie ausschließlich mit der Regelung der kommunalen Unterstützungspflicht ab¬ gab, und demzufolge die rechtliche Auffassung der Armenpflege im Gegensatze zur blos moralischen sich vordrängte. Ist sie eine öffentliche Rechtspflicht, so folgt von selbst, daß ihre Kosten möglichst gleichmäßig unter die zahlungsfähigen Gemeindeglieder vertheilt wer¬ den müssen. Von dieser Vorstellung beherrscht erzürnt man sich über die kargen oder gar ganz ausbleibenden Beiträge mancher vermögenden Leute zu der regelmäßigen Sammlung für die Armen. Man ruft nach dem Steuer¬ zwang, um sie stärker heranzuziehen. Erst gegenwärtig beginnt dieser Geistes¬ zug sich zu wenden. Wo die freiwilligen Beiträge noch bestehen, haben 'sie einige Aussicht, erhalten zu bleiben, da man anfängt, die Unterstützungs¬ pflicht aus dem ideellen Codex des öffentlichen Rechts zu streichen und theils in das Privatrecht, theils in das moralische Reich des Gewissens zu verweisen. Ein paar sehr interessante Städte unter dem Gesichtspunkt der Armen¬ pflege sind Lübeck und Frankfurt am Main. Lübeck, einst das blühende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/334>, abgerufen am 27.05.2024.