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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Haupt der Hansa, ungewöhnlich reich gerade zu der Zeit, wo der Gemein¬
sinn und die öffentliche Freigebigkeit sich vorzugsweise in Wohlthätigkeits¬
stiftungen bethätigte, seitdem an Einwohnerzahl und Unternehmungsgeist
empfindlich herabgekommen, erfreut sich nicht, wie es im hergebrachten
Jargon allerdings heißen würde, sondern leidet geradezu unter dem über¬
fließenden Segen der Vermächtnisse ihrer Vorfahren. Das dortige Armen¬
vermögen wird in Bausch und Bogen auf acht Millionen Thaler geschätzt,
und was es alljährlich abwirft, würde, wenn vertheilt, auf jeden Kopf fünf
Thaler ausmachen. In unzählige Stiftungen unter mehr oder minder selbst¬
ständigen Verwaltungen zersplittert, gleicht dieses colossale Capital einem
immer gedeckten wohlbesetzten Tisch, zu dessen Genüssen Jeder leicht durch
irgend einen Gönner Zutritt findet. Es kann folglich nicht anders als
demoralisirend aus die ganze nicht ohnehin versorgte Bevölkerung der Stadt
wirken. Es wird, wenn seine Verwendung einmal im weiteren Verfolg der
Stiftungs-Reform von 1837 centralisirt sein wird, mit magnetischer Kraft die
Bettler und solche, die es werden wollen, aus einer weiten Umgegend an¬
ziehen, es wäre denn, daß man den allzu vollen Strom vorher auf minder
übersättigte Gefilde abzulenken verstände.

Mit der Stiftungs-Reform von 1867 hat Lübeck freilich ganz Deutsch¬
land den Weg gewiesen, aus vielfach vorhandenen Verwickelungen heraus¬
zukommen. Man verschmolz damals eine Menge veralteter Stiftungen mit
dem öffentlichen Armenvermögen, das so auf recht anständige Höhe gebracht
wurde; während in entsprechendem Umfange die Zersplitterung des Wohl¬
thuns mit allen ihren verhängnißvollen Folgen schwand. Man schrieb ferner
vor, daß die fortbestehenden Stiftungen über ihr Thun regelmäßig Bericht
zu erstatten hätten. Diese Maßregeln hatten nur den Fehler, nicht bis ans
Ende ihrer eignen vernünftigen Richtung zu gehen. Wo man sie nachahmt
-- wie in Hamburg unlängst begonnen --, sollte man herzhafter aufs Ziel
losgehen. Kein todter Stifter oder lebender Stiftungsverwalter hat ein
Recht, in die öffentliche Armenpflege zum Nachtheil ihrer wichtigen Zwecke
zu pfuschen. Das Interesse der örtlichen Einheit der Armenpflege erheischt,
daß alles was sie näher oder serner berührt, ihr planmäßig eingeordnet und
angeschlossen werde.

Die Frankfurter Armenpflege ist, was der Kaiser von Oestreich auf dem
Fürstentage des Jahres 1863 von den Verhältnissen des Deutschen Bundes
aussagte: schlechthin chaotisch. Es gibt doch nur eine Reihe von Privat¬
anstalten für Wohlthätigkeit, denen zum Theil die Stadtcasse Zuschuß ge>
währt. Jeder Zusammenhang unter ihnen fehlt aber. Dies war allenfalls
haltbar, solange ein unvernünftig erschwerter Zugang zum Bürgerrecht den
Kreis der Pflegeberechtigten gewaltsam und künstlich klein erhielt. Mit der


Haupt der Hansa, ungewöhnlich reich gerade zu der Zeit, wo der Gemein¬
sinn und die öffentliche Freigebigkeit sich vorzugsweise in Wohlthätigkeits¬
stiftungen bethätigte, seitdem an Einwohnerzahl und Unternehmungsgeist
empfindlich herabgekommen, erfreut sich nicht, wie es im hergebrachten
Jargon allerdings heißen würde, sondern leidet geradezu unter dem über¬
fließenden Segen der Vermächtnisse ihrer Vorfahren. Das dortige Armen¬
vermögen wird in Bausch und Bogen auf acht Millionen Thaler geschätzt,
und was es alljährlich abwirft, würde, wenn vertheilt, auf jeden Kopf fünf
Thaler ausmachen. In unzählige Stiftungen unter mehr oder minder selbst¬
ständigen Verwaltungen zersplittert, gleicht dieses colossale Capital einem
immer gedeckten wohlbesetzten Tisch, zu dessen Genüssen Jeder leicht durch
irgend einen Gönner Zutritt findet. Es kann folglich nicht anders als
demoralisirend aus die ganze nicht ohnehin versorgte Bevölkerung der Stadt
wirken. Es wird, wenn seine Verwendung einmal im weiteren Verfolg der
Stiftungs-Reform von 1837 centralisirt sein wird, mit magnetischer Kraft die
Bettler und solche, die es werden wollen, aus einer weiten Umgegend an¬
ziehen, es wäre denn, daß man den allzu vollen Strom vorher auf minder
übersättigte Gefilde abzulenken verstände.

Mit der Stiftungs-Reform von 1867 hat Lübeck freilich ganz Deutsch¬
land den Weg gewiesen, aus vielfach vorhandenen Verwickelungen heraus¬
zukommen. Man verschmolz damals eine Menge veralteter Stiftungen mit
dem öffentlichen Armenvermögen, das so auf recht anständige Höhe gebracht
wurde; während in entsprechendem Umfange die Zersplitterung des Wohl¬
thuns mit allen ihren verhängnißvollen Folgen schwand. Man schrieb ferner
vor, daß die fortbestehenden Stiftungen über ihr Thun regelmäßig Bericht
zu erstatten hätten. Diese Maßregeln hatten nur den Fehler, nicht bis ans
Ende ihrer eignen vernünftigen Richtung zu gehen. Wo man sie nachahmt
— wie in Hamburg unlängst begonnen —, sollte man herzhafter aufs Ziel
losgehen. Kein todter Stifter oder lebender Stiftungsverwalter hat ein
Recht, in die öffentliche Armenpflege zum Nachtheil ihrer wichtigen Zwecke
zu pfuschen. Das Interesse der örtlichen Einheit der Armenpflege erheischt,
daß alles was sie näher oder serner berührt, ihr planmäßig eingeordnet und
angeschlossen werde.

Die Frankfurter Armenpflege ist, was der Kaiser von Oestreich auf dem
Fürstentage des Jahres 1863 von den Verhältnissen des Deutschen Bundes
aussagte: schlechthin chaotisch. Es gibt doch nur eine Reihe von Privat¬
anstalten für Wohlthätigkeit, denen zum Theil die Stadtcasse Zuschuß ge>
währt. Jeder Zusammenhang unter ihnen fehlt aber. Dies war allenfalls
haltbar, solange ein unvernünftig erschwerter Zugang zum Bürgerrecht den
Kreis der Pflegeberechtigten gewaltsam und künstlich klein erhielt. Mit der


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[0335] Haupt der Hansa, ungewöhnlich reich gerade zu der Zeit, wo der Gemein¬ sinn und die öffentliche Freigebigkeit sich vorzugsweise in Wohlthätigkeits¬ stiftungen bethätigte, seitdem an Einwohnerzahl und Unternehmungsgeist empfindlich herabgekommen, erfreut sich nicht, wie es im hergebrachten Jargon allerdings heißen würde, sondern leidet geradezu unter dem über¬ fließenden Segen der Vermächtnisse ihrer Vorfahren. Das dortige Armen¬ vermögen wird in Bausch und Bogen auf acht Millionen Thaler geschätzt, und was es alljährlich abwirft, würde, wenn vertheilt, auf jeden Kopf fünf Thaler ausmachen. In unzählige Stiftungen unter mehr oder minder selbst¬ ständigen Verwaltungen zersplittert, gleicht dieses colossale Capital einem immer gedeckten wohlbesetzten Tisch, zu dessen Genüssen Jeder leicht durch irgend einen Gönner Zutritt findet. Es kann folglich nicht anders als demoralisirend aus die ganze nicht ohnehin versorgte Bevölkerung der Stadt wirken. Es wird, wenn seine Verwendung einmal im weiteren Verfolg der Stiftungs-Reform von 1837 centralisirt sein wird, mit magnetischer Kraft die Bettler und solche, die es werden wollen, aus einer weiten Umgegend an¬ ziehen, es wäre denn, daß man den allzu vollen Strom vorher auf minder übersättigte Gefilde abzulenken verstände. Mit der Stiftungs-Reform von 1867 hat Lübeck freilich ganz Deutsch¬ land den Weg gewiesen, aus vielfach vorhandenen Verwickelungen heraus¬ zukommen. Man verschmolz damals eine Menge veralteter Stiftungen mit dem öffentlichen Armenvermögen, das so auf recht anständige Höhe gebracht wurde; während in entsprechendem Umfange die Zersplitterung des Wohl¬ thuns mit allen ihren verhängnißvollen Folgen schwand. Man schrieb ferner vor, daß die fortbestehenden Stiftungen über ihr Thun regelmäßig Bericht zu erstatten hätten. Diese Maßregeln hatten nur den Fehler, nicht bis ans Ende ihrer eignen vernünftigen Richtung zu gehen. Wo man sie nachahmt — wie in Hamburg unlängst begonnen —, sollte man herzhafter aufs Ziel losgehen. Kein todter Stifter oder lebender Stiftungsverwalter hat ein Recht, in die öffentliche Armenpflege zum Nachtheil ihrer wichtigen Zwecke zu pfuschen. Das Interesse der örtlichen Einheit der Armenpflege erheischt, daß alles was sie näher oder serner berührt, ihr planmäßig eingeordnet und angeschlossen werde. Die Frankfurter Armenpflege ist, was der Kaiser von Oestreich auf dem Fürstentage des Jahres 1863 von den Verhältnissen des Deutschen Bundes aussagte: schlechthin chaotisch. Es gibt doch nur eine Reihe von Privat¬ anstalten für Wohlthätigkeit, denen zum Theil die Stadtcasse Zuschuß ge> währt. Jeder Zusammenhang unter ihnen fehlt aber. Dies war allenfalls haltbar, solange ein unvernünftig erschwerter Zugang zum Bürgerrecht den Kreis der Pflegeberechtigten gewaltsam und künstlich klein erhielt. Mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/335>, abgerufen am 13.05.2024.