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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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ganz besonders aber klagen die Genfer selbst über die Zersplitterung ihrer
Literatur, deren jetzige Hauptgrößen ihren Schriften bald ein englisches,
bald ein französisches, bald ein deutsches Gepräge geben und wesentlich
diesen fremden Literaturen angehören, während eine ächt heimathliche
Färbung, die localen Anschauungen und der eigenthümliche Humor der
Vaterstadt nach dem Dahinscheiden Töpffers nur noch einmal, bei dem kau¬
stischer Maler Hornung. den man darum wohl auch den letzten Genfer ge¬
nannt, hervorgetreten ist.

Indessen genießt zu Genf eine Anzahl von Familien, die dort gleichsam
ein geistiges Patriciat zu wahren haben, eines traditionellen Rufs in der
literarischen Welt, der sich zugleich auf ihre Verdienste um die Heimath
gründet; man gedenke nur der Namen Pictet, Saussure, Candolle*). Zu
ihnen gehört, wenn auch erst seit einer kürzeren Periode, die Familie Cher-
buliez. Noch leben die drei Söhne jenes Abraham Cherbuliez, welcher der
Begründer der bedeutendsten Buchhandlung zu Genf wurde: Anton, eine der
Hauptstützen jener berühmten juristisch-nationalökonomischen Richtung, der
auch Sismondi einst angehörte; Joel, dessen geistvolle Schriften über Genf
einen gleichen Sturm von Beifall wie von Widerspruch erregten, endlich
Andr6, der älteste, der, nachdem er früher mit einer englischen Familie in
Italien und später bei einem russischen Fürsten gelebt, in Genf sich als
Geistlicher und später als Professor der altclassischen Literatur einen Namen
erwarb.

Erst im Jahre 1860 ist der Sohn dieses Letzteren, Victor Cherbuliez,
damals ein Mann von 30 Jahren, mit einer Schrift vor die Oeffentlichkeit
getreten. Er hatte schöne Lehr- und Wanderjahre durchgemacht. Nachdem er
in Genf eine gründliche Vorbildung genossen, war er in Paris zu sprach¬
wissenschaftlichen und Kunststudien übergegangen, hatte sich später in einem
längeren Aufenthalte zu Bonn und Berlin in das Studium der hegelschen
Philosophie vertieft, auch in näherem Verkehr mit Schelling gelebt, immer
zugleich mit dem Studium der bildenden Kunst beschäftigt und dem Genusse
unserer deutschen Musik mit Begeisterung ergeben. Alle noch so vortheil-
haften Stellungen, die ihm im Lehrfache angeboten wurden, verschmähend,
wendete er die Mittel, die ihm durch eine kleine Erbschaft zufielen, auf eine
Reise nach Italien, Kleinasien und Griechenland, um dann, ins Vaterland
heimgekehrt, seine schriftstellerische Thätigkeit zu beginnen.

Sein erstes kleines Buch, "vauseriss ^ed^llieuiiss a prvxos ä'rin etieval
as ?tMjg,8" war in Form und Inhalt gleichsam das Programm zu allen
nachfolgenden. Es war einem italienischen Grafen gewidmet und machte sich



") Vgl. blarv Normier, ig. revowtio" Ah (Aeneve ot los Ksrievois en 1868. Revue avs
Ävux Nouäes vom Is. Dec. v. I.
Grenzboten IV. 1869.. 9

ganz besonders aber klagen die Genfer selbst über die Zersplitterung ihrer
Literatur, deren jetzige Hauptgrößen ihren Schriften bald ein englisches,
bald ein französisches, bald ein deutsches Gepräge geben und wesentlich
diesen fremden Literaturen angehören, während eine ächt heimathliche
Färbung, die localen Anschauungen und der eigenthümliche Humor der
Vaterstadt nach dem Dahinscheiden Töpffers nur noch einmal, bei dem kau¬
stischer Maler Hornung. den man darum wohl auch den letzten Genfer ge¬
nannt, hervorgetreten ist.

Indessen genießt zu Genf eine Anzahl von Familien, die dort gleichsam
ein geistiges Patriciat zu wahren haben, eines traditionellen Rufs in der
literarischen Welt, der sich zugleich auf ihre Verdienste um die Heimath
gründet; man gedenke nur der Namen Pictet, Saussure, Candolle*). Zu
ihnen gehört, wenn auch erst seit einer kürzeren Periode, die Familie Cher-
buliez. Noch leben die drei Söhne jenes Abraham Cherbuliez, welcher der
Begründer der bedeutendsten Buchhandlung zu Genf wurde: Anton, eine der
Hauptstützen jener berühmten juristisch-nationalökonomischen Richtung, der
auch Sismondi einst angehörte; Joel, dessen geistvolle Schriften über Genf
einen gleichen Sturm von Beifall wie von Widerspruch erregten, endlich
Andr6, der älteste, der, nachdem er früher mit einer englischen Familie in
Italien und später bei einem russischen Fürsten gelebt, in Genf sich als
Geistlicher und später als Professor der altclassischen Literatur einen Namen
erwarb.

Erst im Jahre 1860 ist der Sohn dieses Letzteren, Victor Cherbuliez,
damals ein Mann von 30 Jahren, mit einer Schrift vor die Oeffentlichkeit
getreten. Er hatte schöne Lehr- und Wanderjahre durchgemacht. Nachdem er
in Genf eine gründliche Vorbildung genossen, war er in Paris zu sprach¬
wissenschaftlichen und Kunststudien übergegangen, hatte sich später in einem
längeren Aufenthalte zu Bonn und Berlin in das Studium der hegelschen
Philosophie vertieft, auch in näherem Verkehr mit Schelling gelebt, immer
zugleich mit dem Studium der bildenden Kunst beschäftigt und dem Genusse
unserer deutschen Musik mit Begeisterung ergeben. Alle noch so vortheil-
haften Stellungen, die ihm im Lehrfache angeboten wurden, verschmähend,
wendete er die Mittel, die ihm durch eine kleine Erbschaft zufielen, auf eine
Reise nach Italien, Kleinasien und Griechenland, um dann, ins Vaterland
heimgekehrt, seine schriftstellerische Thätigkeit zu beginnen.

Sein erstes kleines Buch, „vauseriss ^ed^llieuiiss a prvxos ä'rin etieval
as ?tMjg,8" war in Form und Inhalt gleichsam das Programm zu allen
nachfolgenden. Es war einem italienischen Grafen gewidmet und machte sich



") Vgl. blarv Normier, ig. revowtio» Ah (Aeneve ot los Ksrievois en 1868. Revue avs
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[0073] ganz besonders aber klagen die Genfer selbst über die Zersplitterung ihrer Literatur, deren jetzige Hauptgrößen ihren Schriften bald ein englisches, bald ein französisches, bald ein deutsches Gepräge geben und wesentlich diesen fremden Literaturen angehören, während eine ächt heimathliche Färbung, die localen Anschauungen und der eigenthümliche Humor der Vaterstadt nach dem Dahinscheiden Töpffers nur noch einmal, bei dem kau¬ stischer Maler Hornung. den man darum wohl auch den letzten Genfer ge¬ nannt, hervorgetreten ist. Indessen genießt zu Genf eine Anzahl von Familien, die dort gleichsam ein geistiges Patriciat zu wahren haben, eines traditionellen Rufs in der literarischen Welt, der sich zugleich auf ihre Verdienste um die Heimath gründet; man gedenke nur der Namen Pictet, Saussure, Candolle*). Zu ihnen gehört, wenn auch erst seit einer kürzeren Periode, die Familie Cher- buliez. Noch leben die drei Söhne jenes Abraham Cherbuliez, welcher der Begründer der bedeutendsten Buchhandlung zu Genf wurde: Anton, eine der Hauptstützen jener berühmten juristisch-nationalökonomischen Richtung, der auch Sismondi einst angehörte; Joel, dessen geistvolle Schriften über Genf einen gleichen Sturm von Beifall wie von Widerspruch erregten, endlich Andr6, der älteste, der, nachdem er früher mit einer englischen Familie in Italien und später bei einem russischen Fürsten gelebt, in Genf sich als Geistlicher und später als Professor der altclassischen Literatur einen Namen erwarb. Erst im Jahre 1860 ist der Sohn dieses Letzteren, Victor Cherbuliez, damals ein Mann von 30 Jahren, mit einer Schrift vor die Oeffentlichkeit getreten. Er hatte schöne Lehr- und Wanderjahre durchgemacht. Nachdem er in Genf eine gründliche Vorbildung genossen, war er in Paris zu sprach¬ wissenschaftlichen und Kunststudien übergegangen, hatte sich später in einem längeren Aufenthalte zu Bonn und Berlin in das Studium der hegelschen Philosophie vertieft, auch in näherem Verkehr mit Schelling gelebt, immer zugleich mit dem Studium der bildenden Kunst beschäftigt und dem Genusse unserer deutschen Musik mit Begeisterung ergeben. Alle noch so vortheil- haften Stellungen, die ihm im Lehrfache angeboten wurden, verschmähend, wendete er die Mittel, die ihm durch eine kleine Erbschaft zufielen, auf eine Reise nach Italien, Kleinasien und Griechenland, um dann, ins Vaterland heimgekehrt, seine schriftstellerische Thätigkeit zu beginnen. Sein erstes kleines Buch, „vauseriss ^ed^llieuiiss a prvxos ä'rin etieval as ?tMjg,8" war in Form und Inhalt gleichsam das Programm zu allen nachfolgenden. Es war einem italienischen Grafen gewidmet und machte sich ") Vgl. blarv Normier, ig. revowtio» Ah (Aeneve ot los Ksrievois en 1868. Revue avs Ävux Nouäes vom Is. Dec. v. I. Grenzboten IV. 1869.. 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/73>, abgerufen am 13.05.2024.