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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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als lustige Personen (im objectiven Sinne); tieferes Studium des englischen
Nationalcharakters verräth er jedoch nicht. Besser gelingt ihm das Bild der
Lady; so ist in dem Charakterkopf jener getrösteten Wittwe Mrs. Simpson
und dem Gemisch von sarkastischer Kampflaune und einem herzlichen Gefühl
für alles wirkliche Leiden ein Typus erreicht, wie er leibt und lebt. Auf¬
fallend, daß alle Bürger Albions bei Cherbuliez stark ausgesprochenem Ra¬
tionalismus huldigen, einer Richtung, die bekanntlich in der feinen Gesell¬
schaft Englands allem guten Ton zuwiderläuft.

Deutsche Naturen finden wir ausdrücklich fast nur in dem Aufsatze über
Lessing geschildert, und auch dort vornehmlich unter dem Gesichtspunkte ihrer
literarischen Thätigkeit. Im Romane hat er uns eine einzige Nebenperson,
jenen halb gutartigen, halb verschmitzten Doctor Meergraf aus Frankfurt
zugetheilt, auf dessen Besitz wir uns nicht viel einzubilden haben. Aber der
interessanteste Held, den er geschaffen, Gilbert Saone, besitzt, obgleich er sein
Deutsch ü ig, Ziadls ausspricht, doch so viel gutes deutsches Blut, daß er
selbst nach dem Urtheile des Verfassers wenigstens Lothringer sein mußte.
Mag er seine weisheitsgraue Jugend, wie sie jetzt in Paris zu Hause, seine
rasche Entschlossenheit, die sich mit kühler Selbstbeherrschung und feiner Welt,
maurischer Bildung paart, als französisches Erbtheil beanspruchen; diese poe¬
tische Seele, die sich auf Jahre mit einem Halbbarbaren auf dem alten
Schlosse zu einsamen Studien einschließt und für sich nichts begehrt, als in
ihren Mußestunden an den eigenen Phantasien in den Zaubergärten goethe¬
scher Poesie zu wandeln, dieses sinnige Gemüth, das zu einem jungen Freunde
eine wahrhaft Jean-Paultsch romantische Neigung faßt, und später, als ihm
statt des Freundes ein liebendes Weib vor Augen steht, ruhiger Fassung
bleibt, um erst in der Prüfung eines Jahres zum Bewußtsein der Tiefe seines
Gefühls für sie zu gelangen -- wer wollte in ihm die deutsche Abkunft ver-
kennen? -- Unter den Frauencharakteren steht Lucile d'Azado unserer ^züch¬
tigen Hausfrau" in ihrem stillen Walten am nächsten, und das ganze Werk,
in welchem sie auftritt, enthält merkwürdig viel deutsche Anklänge. Didier
von Peyrols. ein unthätig klügelnder Hamletcharakter, der ohne Ambition
nur seinen Ideen zu leben wünscht, der sich noch am Hochzeitstage vor dem
Bilde seiner Braut höher begeistert als vor dem Original, der mit unzer¬
störbarer Gutmüthigkeit und Sanftmuth einem schlimmen Bruder nachgeht,
um ihn ins rechte Geleis zu bringen, -- das nannte man sonst in Frankreich
deutsch. Umsomehr freuen wir uns, daß diese Figur nicht zum Deutschen ge¬
macht ist. Sein Bruder dagegen scheint nach Balzacs boshafter Charakteristik der
Deutschen erfunden, "von denen man nie recht wisse, wo die Tiefe des Ge¬
fühls aufhöre und die Berechnung anfange"; es ist uns um des Dichters
willen lieb, auch diesen Jüngling, der sich übrigens mit vollkommen galli¬
scher Leichtigkeit über seine Ehebruche und Coulissenabenteuer hinwegsetzt, als
Franzosen vorgestellt zu sehen; ein meisterhaftes Charakterbild und eine War¬
nung vor ähnlich gearteten Künstlernaturen unseres Vaterlandes, die in Leben
und Kunst auf der Dissonanz zwischen Ueberidealismus und krassen Realis¬
mus die Schwebe halten, bleibt er immerhin.

Was wir am unliebsten bei Ch. vermissen ist wärmere Würdigung des
deutschen Familienlebens in seiner Zwanglosigkeit und Solidität; ebenso daß
er bei allem Respect vor dem arbeitenden Volke die Arbeit selbst fast nur
unter den Problemen der geistigen Aristokratie und auch da nur aus der
Ferne betrachtet. Vielleicht ist das eine Folge seiner vielgerühmten und in
ihrer Art beneidenswerthen Unabhängigkeit und Amtlosigkeit. Unseren deut¬
schen Autoren hat es aller Entbehrung zum Trotz doch fast immer zum Vor-
theil gereicht, wenn sie gezwungen gewesen, wenigstens eine Zeit lang in
amtlichen Lebensberufe zu wirken. Die Deutschen sind ohnehin in ihren "mo-


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als lustige Personen (im objectiven Sinne); tieferes Studium des englischen
Nationalcharakters verräth er jedoch nicht. Besser gelingt ihm das Bild der
Lady; so ist in dem Charakterkopf jener getrösteten Wittwe Mrs. Simpson
und dem Gemisch von sarkastischer Kampflaune und einem herzlichen Gefühl
für alles wirkliche Leiden ein Typus erreicht, wie er leibt und lebt. Auf¬
fallend, daß alle Bürger Albions bei Cherbuliez stark ausgesprochenem Ra¬
tionalismus huldigen, einer Richtung, die bekanntlich in der feinen Gesell¬
schaft Englands allem guten Ton zuwiderläuft.

Deutsche Naturen finden wir ausdrücklich fast nur in dem Aufsatze über
Lessing geschildert, und auch dort vornehmlich unter dem Gesichtspunkte ihrer
literarischen Thätigkeit. Im Romane hat er uns eine einzige Nebenperson,
jenen halb gutartigen, halb verschmitzten Doctor Meergraf aus Frankfurt
zugetheilt, auf dessen Besitz wir uns nicht viel einzubilden haben. Aber der
interessanteste Held, den er geschaffen, Gilbert Saone, besitzt, obgleich er sein
Deutsch ü ig, Ziadls ausspricht, doch so viel gutes deutsches Blut, daß er
selbst nach dem Urtheile des Verfassers wenigstens Lothringer sein mußte.
Mag er seine weisheitsgraue Jugend, wie sie jetzt in Paris zu Hause, seine
rasche Entschlossenheit, die sich mit kühler Selbstbeherrschung und feiner Welt,
maurischer Bildung paart, als französisches Erbtheil beanspruchen; diese poe¬
tische Seele, die sich auf Jahre mit einem Halbbarbaren auf dem alten
Schlosse zu einsamen Studien einschließt und für sich nichts begehrt, als in
ihren Mußestunden an den eigenen Phantasien in den Zaubergärten goethe¬
scher Poesie zu wandeln, dieses sinnige Gemüth, das zu einem jungen Freunde
eine wahrhaft Jean-Paultsch romantische Neigung faßt, und später, als ihm
statt des Freundes ein liebendes Weib vor Augen steht, ruhiger Fassung
bleibt, um erst in der Prüfung eines Jahres zum Bewußtsein der Tiefe seines
Gefühls für sie zu gelangen — wer wollte in ihm die deutsche Abkunft ver-
kennen? — Unter den Frauencharakteren steht Lucile d'Azado unserer ^züch¬
tigen Hausfrau" in ihrem stillen Walten am nächsten, und das ganze Werk,
in welchem sie auftritt, enthält merkwürdig viel deutsche Anklänge. Didier
von Peyrols. ein unthätig klügelnder Hamletcharakter, der ohne Ambition
nur seinen Ideen zu leben wünscht, der sich noch am Hochzeitstage vor dem
Bilde seiner Braut höher begeistert als vor dem Original, der mit unzer¬
störbarer Gutmüthigkeit und Sanftmuth einem schlimmen Bruder nachgeht,
um ihn ins rechte Geleis zu bringen, — das nannte man sonst in Frankreich
deutsch. Umsomehr freuen wir uns, daß diese Figur nicht zum Deutschen ge¬
macht ist. Sein Bruder dagegen scheint nach Balzacs boshafter Charakteristik der
Deutschen erfunden, „von denen man nie recht wisse, wo die Tiefe des Ge¬
fühls aufhöre und die Berechnung anfange"; es ist uns um des Dichters
willen lieb, auch diesen Jüngling, der sich übrigens mit vollkommen galli¬
scher Leichtigkeit über seine Ehebruche und Coulissenabenteuer hinwegsetzt, als
Franzosen vorgestellt zu sehen; ein meisterhaftes Charakterbild und eine War¬
nung vor ähnlich gearteten Künstlernaturen unseres Vaterlandes, die in Leben
und Kunst auf der Dissonanz zwischen Ueberidealismus und krassen Realis¬
mus die Schwebe halten, bleibt er immerhin.

Was wir am unliebsten bei Ch. vermissen ist wärmere Würdigung des
deutschen Familienlebens in seiner Zwanglosigkeit und Solidität; ebenso daß
er bei allem Respect vor dem arbeitenden Volke die Arbeit selbst fast nur
unter den Problemen der geistigen Aristokratie und auch da nur aus der
Ferne betrachtet. Vielleicht ist das eine Folge seiner vielgerühmten und in
ihrer Art beneidenswerthen Unabhängigkeit und Amtlosigkeit. Unseren deut¬
schen Autoren hat es aller Entbehrung zum Trotz doch fast immer zum Vor-
theil gereicht, wenn sie gezwungen gewesen, wenigstens eine Zeit lang in
amtlichen Lebensberufe zu wirken. Die Deutschen sind ohnehin in ihren „mo-


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[0083] als lustige Personen (im objectiven Sinne); tieferes Studium des englischen Nationalcharakters verräth er jedoch nicht. Besser gelingt ihm das Bild der Lady; so ist in dem Charakterkopf jener getrösteten Wittwe Mrs. Simpson und dem Gemisch von sarkastischer Kampflaune und einem herzlichen Gefühl für alles wirkliche Leiden ein Typus erreicht, wie er leibt und lebt. Auf¬ fallend, daß alle Bürger Albions bei Cherbuliez stark ausgesprochenem Ra¬ tionalismus huldigen, einer Richtung, die bekanntlich in der feinen Gesell¬ schaft Englands allem guten Ton zuwiderläuft. Deutsche Naturen finden wir ausdrücklich fast nur in dem Aufsatze über Lessing geschildert, und auch dort vornehmlich unter dem Gesichtspunkte ihrer literarischen Thätigkeit. Im Romane hat er uns eine einzige Nebenperson, jenen halb gutartigen, halb verschmitzten Doctor Meergraf aus Frankfurt zugetheilt, auf dessen Besitz wir uns nicht viel einzubilden haben. Aber der interessanteste Held, den er geschaffen, Gilbert Saone, besitzt, obgleich er sein Deutsch ü ig, Ziadls ausspricht, doch so viel gutes deutsches Blut, daß er selbst nach dem Urtheile des Verfassers wenigstens Lothringer sein mußte. Mag er seine weisheitsgraue Jugend, wie sie jetzt in Paris zu Hause, seine rasche Entschlossenheit, die sich mit kühler Selbstbeherrschung und feiner Welt, maurischer Bildung paart, als französisches Erbtheil beanspruchen; diese poe¬ tische Seele, die sich auf Jahre mit einem Halbbarbaren auf dem alten Schlosse zu einsamen Studien einschließt und für sich nichts begehrt, als in ihren Mußestunden an den eigenen Phantasien in den Zaubergärten goethe¬ scher Poesie zu wandeln, dieses sinnige Gemüth, das zu einem jungen Freunde eine wahrhaft Jean-Paultsch romantische Neigung faßt, und später, als ihm statt des Freundes ein liebendes Weib vor Augen steht, ruhiger Fassung bleibt, um erst in der Prüfung eines Jahres zum Bewußtsein der Tiefe seines Gefühls für sie zu gelangen — wer wollte in ihm die deutsche Abkunft ver- kennen? — Unter den Frauencharakteren steht Lucile d'Azado unserer ^züch¬ tigen Hausfrau" in ihrem stillen Walten am nächsten, und das ganze Werk, in welchem sie auftritt, enthält merkwürdig viel deutsche Anklänge. Didier von Peyrols. ein unthätig klügelnder Hamletcharakter, der ohne Ambition nur seinen Ideen zu leben wünscht, der sich noch am Hochzeitstage vor dem Bilde seiner Braut höher begeistert als vor dem Original, der mit unzer¬ störbarer Gutmüthigkeit und Sanftmuth einem schlimmen Bruder nachgeht, um ihn ins rechte Geleis zu bringen, — das nannte man sonst in Frankreich deutsch. Umsomehr freuen wir uns, daß diese Figur nicht zum Deutschen ge¬ macht ist. Sein Bruder dagegen scheint nach Balzacs boshafter Charakteristik der Deutschen erfunden, „von denen man nie recht wisse, wo die Tiefe des Ge¬ fühls aufhöre und die Berechnung anfange"; es ist uns um des Dichters willen lieb, auch diesen Jüngling, der sich übrigens mit vollkommen galli¬ scher Leichtigkeit über seine Ehebruche und Coulissenabenteuer hinwegsetzt, als Franzosen vorgestellt zu sehen; ein meisterhaftes Charakterbild und eine War¬ nung vor ähnlich gearteten Künstlernaturen unseres Vaterlandes, die in Leben und Kunst auf der Dissonanz zwischen Ueberidealismus und krassen Realis¬ mus die Schwebe halten, bleibt er immerhin. Was wir am unliebsten bei Ch. vermissen ist wärmere Würdigung des deutschen Familienlebens in seiner Zwanglosigkeit und Solidität; ebenso daß er bei allem Respect vor dem arbeitenden Volke die Arbeit selbst fast nur unter den Problemen der geistigen Aristokratie und auch da nur aus der Ferne betrachtet. Vielleicht ist das eine Folge seiner vielgerühmten und in ihrer Art beneidenswerthen Unabhängigkeit und Amtlosigkeit. Unseren deut¬ schen Autoren hat es aller Entbehrung zum Trotz doch fast immer zum Vor- theil gereicht, wenn sie gezwungen gewesen, wenigstens eine Zeit lang in amtlichen Lebensberufe zu wirken. Die Deutschen sind ohnehin in ihren „mo- 10*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/83>, abgerufen am 28.05.2024.