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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Odysseus darstellt, wieder den glühenden Pfahl in das Auge des Kyklopen
bohrt. Beide Figuren sind durch etruskische Inschriften bezeichnet. Polyphem
liegt da, ein ungeschlachter Riese, dessen feister Körper an silenenhafte Bildung
erinnert, und schlägt in wüthendem Schmerze mit den Beinen um sich. Der
Pfahl, welcher in dem kolossalen in der Mitte der Stirn befindlichen Auge
arbeitet, drückt die Kopfhaut tief herunter, dergestalt, daß die Theile bedeckt
sind, wo bei gewöhnlicher menschlicher Bildung die Augen liegen müßten.
Die Figur des Odysseus ist lebendig bewegt, hat jedoch leider namentlich in
den Kopfpartien sehr gelitten. Hinter Polyphem hat man einen Einblick
in den Hintergrund der Grotte, wo verschiedene Schafe gelagert sind. Mag
die Durchführung der Bilder etwas grob sein, so bezeugt sie jedenfalls eine
Kunstepoche, welche sich im Vollbesitze aller malerischen Mittel befindet und
im Stande ist, die Erscheinungen der Außenwelt auf das Entsprechendste in
der Malerei zu reproduciren. Dagegen stehen Erfindung und Auffassung auf
sehr niedriger Stufe. Es herrscht darin ein ausgesprochener Realismus, wie
er in der griechischen Kunst von Alexander abwärts vorbereitet war, welcher
auf italischen Boden bei der entschieden realistischen Kunstanlage der Be¬
völkerung ein geeignetes Terrain fand und hier weiter entwickelt und wohl
auch vergrößert wurde.

Bis zu diesem Stadium der Entwickelung führen uns die neuen Ent¬
deckungen in der Nekropole des alten Tarquinii. Um die kunsthistorische Bedeu¬
tung der betreffenden Monumente deutlich zu machen, habe ich nicht umhin ge¬
konnt, in aller Kürze die Umrisse von der Kunstentfaltung anzudeuten, wie sie
sich aus dem bisher bekannnten Material ergibt. Absichtlich habe ich mich bei
dieser Uebersicht auf Tarquinii beschränkt und nicht von der etruskischen
Kunst im Allgemeinen gesprochen; denn wiewohl schließlich die Kunst in den
verschiedenen Städten Etruriens zu einer im Ganzen übereinstimmenden Ent¬
wickelung gedieh, so fehlt es in früherer Epoche nicht an Spuren, welche be¬
weisen, daß einzelne Städte je nach den Bedingungen, auf denen ihre Cul¬
tur beruhte, nach ihrer größeren oder geringeren Entfernung vom Meere,
nach dem Grade ihrer Beziehungen zu Griechenland, einen Weg verfolgten,
welcher nicht in allen Stadien mit dem in Tarquinii nachweisbaren über¬
einstimmt. --

Die neuentdeckten Monumente werden von dem archäologischen Institut
in dem Jahrgange 1870 publicirt werden. Die bunten Copien der Wand¬
gemälde und die Facsimile's der bedeutendsten Köpfe find in gelungenster
Weise von dem Maler Ludwig Schulz aus Greiz hergestellt worden. Seine
Thätigkeit kann nicht genug anerkannt werden, da die Umstände, unter denen
er arbeitete, sehr ungünstig waren. In den Gräbern herrscht eine eigen¬
thümliche mephitische Luft, welche das Athmen erschwert; dazu steht infolge


Odysseus darstellt, wieder den glühenden Pfahl in das Auge des Kyklopen
bohrt. Beide Figuren sind durch etruskische Inschriften bezeichnet. Polyphem
liegt da, ein ungeschlachter Riese, dessen feister Körper an silenenhafte Bildung
erinnert, und schlägt in wüthendem Schmerze mit den Beinen um sich. Der
Pfahl, welcher in dem kolossalen in der Mitte der Stirn befindlichen Auge
arbeitet, drückt die Kopfhaut tief herunter, dergestalt, daß die Theile bedeckt
sind, wo bei gewöhnlicher menschlicher Bildung die Augen liegen müßten.
Die Figur des Odysseus ist lebendig bewegt, hat jedoch leider namentlich in
den Kopfpartien sehr gelitten. Hinter Polyphem hat man einen Einblick
in den Hintergrund der Grotte, wo verschiedene Schafe gelagert sind. Mag
die Durchführung der Bilder etwas grob sein, so bezeugt sie jedenfalls eine
Kunstepoche, welche sich im Vollbesitze aller malerischen Mittel befindet und
im Stande ist, die Erscheinungen der Außenwelt auf das Entsprechendste in
der Malerei zu reproduciren. Dagegen stehen Erfindung und Auffassung auf
sehr niedriger Stufe. Es herrscht darin ein ausgesprochener Realismus, wie
er in der griechischen Kunst von Alexander abwärts vorbereitet war, welcher
auf italischen Boden bei der entschieden realistischen Kunstanlage der Be¬
völkerung ein geeignetes Terrain fand und hier weiter entwickelt und wohl
auch vergrößert wurde.

Bis zu diesem Stadium der Entwickelung führen uns die neuen Ent¬
deckungen in der Nekropole des alten Tarquinii. Um die kunsthistorische Bedeu¬
tung der betreffenden Monumente deutlich zu machen, habe ich nicht umhin ge¬
konnt, in aller Kürze die Umrisse von der Kunstentfaltung anzudeuten, wie sie
sich aus dem bisher bekannnten Material ergibt. Absichtlich habe ich mich bei
dieser Uebersicht auf Tarquinii beschränkt und nicht von der etruskischen
Kunst im Allgemeinen gesprochen; denn wiewohl schließlich die Kunst in den
verschiedenen Städten Etruriens zu einer im Ganzen übereinstimmenden Ent¬
wickelung gedieh, so fehlt es in früherer Epoche nicht an Spuren, welche be¬
weisen, daß einzelne Städte je nach den Bedingungen, auf denen ihre Cul¬
tur beruhte, nach ihrer größeren oder geringeren Entfernung vom Meere,
nach dem Grade ihrer Beziehungen zu Griechenland, einen Weg verfolgten,
welcher nicht in allen Stadien mit dem in Tarquinii nachweisbaren über¬
einstimmt. —

Die neuentdeckten Monumente werden von dem archäologischen Institut
in dem Jahrgange 1870 publicirt werden. Die bunten Copien der Wand¬
gemälde und die Facsimile's der bedeutendsten Köpfe find in gelungenster
Weise von dem Maler Ludwig Schulz aus Greiz hergestellt worden. Seine
Thätigkeit kann nicht genug anerkannt werden, da die Umstände, unter denen
er arbeitete, sehr ungünstig waren. In den Gräbern herrscht eine eigen¬
thümliche mephitische Luft, welche das Athmen erschwert; dazu steht infolge


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[0020] Odysseus darstellt, wieder den glühenden Pfahl in das Auge des Kyklopen bohrt. Beide Figuren sind durch etruskische Inschriften bezeichnet. Polyphem liegt da, ein ungeschlachter Riese, dessen feister Körper an silenenhafte Bildung erinnert, und schlägt in wüthendem Schmerze mit den Beinen um sich. Der Pfahl, welcher in dem kolossalen in der Mitte der Stirn befindlichen Auge arbeitet, drückt die Kopfhaut tief herunter, dergestalt, daß die Theile bedeckt sind, wo bei gewöhnlicher menschlicher Bildung die Augen liegen müßten. Die Figur des Odysseus ist lebendig bewegt, hat jedoch leider namentlich in den Kopfpartien sehr gelitten. Hinter Polyphem hat man einen Einblick in den Hintergrund der Grotte, wo verschiedene Schafe gelagert sind. Mag die Durchführung der Bilder etwas grob sein, so bezeugt sie jedenfalls eine Kunstepoche, welche sich im Vollbesitze aller malerischen Mittel befindet und im Stande ist, die Erscheinungen der Außenwelt auf das Entsprechendste in der Malerei zu reproduciren. Dagegen stehen Erfindung und Auffassung auf sehr niedriger Stufe. Es herrscht darin ein ausgesprochener Realismus, wie er in der griechischen Kunst von Alexander abwärts vorbereitet war, welcher auf italischen Boden bei der entschieden realistischen Kunstanlage der Be¬ völkerung ein geeignetes Terrain fand und hier weiter entwickelt und wohl auch vergrößert wurde. Bis zu diesem Stadium der Entwickelung führen uns die neuen Ent¬ deckungen in der Nekropole des alten Tarquinii. Um die kunsthistorische Bedeu¬ tung der betreffenden Monumente deutlich zu machen, habe ich nicht umhin ge¬ konnt, in aller Kürze die Umrisse von der Kunstentfaltung anzudeuten, wie sie sich aus dem bisher bekannnten Material ergibt. Absichtlich habe ich mich bei dieser Uebersicht auf Tarquinii beschränkt und nicht von der etruskischen Kunst im Allgemeinen gesprochen; denn wiewohl schließlich die Kunst in den verschiedenen Städten Etruriens zu einer im Ganzen übereinstimmenden Ent¬ wickelung gedieh, so fehlt es in früherer Epoche nicht an Spuren, welche be¬ weisen, daß einzelne Städte je nach den Bedingungen, auf denen ihre Cul¬ tur beruhte, nach ihrer größeren oder geringeren Entfernung vom Meere, nach dem Grade ihrer Beziehungen zu Griechenland, einen Weg verfolgten, welcher nicht in allen Stadien mit dem in Tarquinii nachweisbaren über¬ einstimmt. — Die neuentdeckten Monumente werden von dem archäologischen Institut in dem Jahrgange 1870 publicirt werden. Die bunten Copien der Wand¬ gemälde und die Facsimile's der bedeutendsten Köpfe find in gelungenster Weise von dem Maler Ludwig Schulz aus Greiz hergestellt worden. Seine Thätigkeit kann nicht genug anerkannt werden, da die Umstände, unter denen er arbeitete, sehr ungünstig waren. In den Gräbern herrscht eine eigen¬ thümliche mephitische Luft, welche das Athmen erschwert; dazu steht infolge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/20>, abgerufen am 16.06.2024.