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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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natürliche Feindin der Staatsform, welche begründet werden soll. Die Ar.
beiter und Bauern, welche ihre Stimmen zur Verwandlung der Republik in
das Kaiserreich hergaben, haben schwerlich ihre Meinung darüber verändert, daß
ihren Interessen am besten durch ein Bündniß zwischen dem selbstherrlichen
Herrscher und den Massen gedient ist. In ihrer Majorität denken sie von
dem Regiment der Mittelclassen und ihrer Stimmführer grade so ungünstig
wie vor zwanzig Jahren. Die socialistischen Tendenzen, welche in der Arbei¬
terbevölkerung der großen Städte herrschen, haben an den Männern des Li¬
beralismus sehr viel entschiedenere Gegner als an dem Kaiser, der sich zur
Lösung der socialen Frage anheischig gemacht hat, und sind sich des Gegen¬
satzes zu der Partei, welche nunmehr in die Herrschaft treten soll, sehr genau
bewußt. Die Bauern sind in den meisten Gegenden des Reichs von ultra¬
montanen Bischöfen und Priestern abhängig und selbst bei einem großen
Theil der Bourgeoisie wird es nur energischer Drohungen mit dem rothen
Gespenst bedürfen, um dem persönlichen Herrscher zahlreiche unzuverlässig ge¬
wordene Freunde und Anhänger wieder zu gewinnen.

Nimmt man zu dem Allen, daß 21jährige Unfreiheit die Franzosen um
alle ihre parlamentarischen Gewohnheiten gebracht hat, daß es eigentlich
allen Parteien an zuverlässigen und anerkannten Führern fehlt, daß endlich
keinerlei Bürgschaften für die Charakterfestigkeit und Energie der neuen Mi¬
nister vorliegen und daß selbst Ollivier von den Irrthümern und Vorurtheil
im des französischen Liberalismus keineswegs frei ist, so wird es unmöglich-
sein, sich irgend welchen Illusionen über die Zukunft des neuen parlamentari¬
schen Cabinets, ja des französischen Parlamentarismus überhaupt hinzugeben.
Mag bei der herrschenden Stimmung die durch das Verwaltungssymstem be¬
günstigte reactionäre Gefahr auch im Abnehmen sein, so werden dadurch
wohl die Chancen der Revolution, aber nicht die der Freiheit erhöht. Die
Mehrzahl der Anhänger des gegenwärtigen Systems erscheint sehr viel ge¬
eigneter zum Radicalismus abzufallen, als in die Reihen der Vertheidiger
ächter Freiheit zu treten.

So bleibt die Zukunft Frankreichs auch unter dem Ministerium
Ollivier zweifelhaft und unsicher. Wir Deutschen müssen uns einst¬
weilen daran genügen lassen, daß dasselbe den Frieden will und in seinem her¬
vorragendsten Mitgliede das Selbstbestimmungsrecht Deutschlands anerkennt.
Vermag der neue Großsiegelbewahrer sich auch nur eine Zeit lang an der
Spitze der Geschäfte zu behaupten, so läßt sich hoffen, daß verständige Ein¬
sicht in das Wesen der deutschen Dinge auch bei der Masse der Franzosen
Wurzel schlagen werde. In diesem Sinne haben wir allen Grund, mit der
neuesten Wendung in Frankreich zufrieden zu sein.




natürliche Feindin der Staatsform, welche begründet werden soll. Die Ar.
beiter und Bauern, welche ihre Stimmen zur Verwandlung der Republik in
das Kaiserreich hergaben, haben schwerlich ihre Meinung darüber verändert, daß
ihren Interessen am besten durch ein Bündniß zwischen dem selbstherrlichen
Herrscher und den Massen gedient ist. In ihrer Majorität denken sie von
dem Regiment der Mittelclassen und ihrer Stimmführer grade so ungünstig
wie vor zwanzig Jahren. Die socialistischen Tendenzen, welche in der Arbei¬
terbevölkerung der großen Städte herrschen, haben an den Männern des Li¬
beralismus sehr viel entschiedenere Gegner als an dem Kaiser, der sich zur
Lösung der socialen Frage anheischig gemacht hat, und sind sich des Gegen¬
satzes zu der Partei, welche nunmehr in die Herrschaft treten soll, sehr genau
bewußt. Die Bauern sind in den meisten Gegenden des Reichs von ultra¬
montanen Bischöfen und Priestern abhängig und selbst bei einem großen
Theil der Bourgeoisie wird es nur energischer Drohungen mit dem rothen
Gespenst bedürfen, um dem persönlichen Herrscher zahlreiche unzuverlässig ge¬
wordene Freunde und Anhänger wieder zu gewinnen.

Nimmt man zu dem Allen, daß 21jährige Unfreiheit die Franzosen um
alle ihre parlamentarischen Gewohnheiten gebracht hat, daß es eigentlich
allen Parteien an zuverlässigen und anerkannten Führern fehlt, daß endlich
keinerlei Bürgschaften für die Charakterfestigkeit und Energie der neuen Mi¬
nister vorliegen und daß selbst Ollivier von den Irrthümern und Vorurtheil
im des französischen Liberalismus keineswegs frei ist, so wird es unmöglich-
sein, sich irgend welchen Illusionen über die Zukunft des neuen parlamentari¬
schen Cabinets, ja des französischen Parlamentarismus überhaupt hinzugeben.
Mag bei der herrschenden Stimmung die durch das Verwaltungssymstem be¬
günstigte reactionäre Gefahr auch im Abnehmen sein, so werden dadurch
wohl die Chancen der Revolution, aber nicht die der Freiheit erhöht. Die
Mehrzahl der Anhänger des gegenwärtigen Systems erscheint sehr viel ge¬
eigneter zum Radicalismus abzufallen, als in die Reihen der Vertheidiger
ächter Freiheit zu treten.

So bleibt die Zukunft Frankreichs auch unter dem Ministerium
Ollivier zweifelhaft und unsicher. Wir Deutschen müssen uns einst¬
weilen daran genügen lassen, daß dasselbe den Frieden will und in seinem her¬
vorragendsten Mitgliede das Selbstbestimmungsrecht Deutschlands anerkennt.
Vermag der neue Großsiegelbewahrer sich auch nur eine Zeit lang an der
Spitze der Geschäfte zu behaupten, so läßt sich hoffen, daß verständige Ein¬
sicht in das Wesen der deutschen Dinge auch bei der Masse der Franzosen
Wurzel schlagen werde. In diesem Sinne haben wir allen Grund, mit der
neuesten Wendung in Frankreich zufrieden zu sein.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/50>, abgerufen am 16.06.2024.