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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Liberale sind und ob das gegenwärtige L!ol'i>8 iLgisl-rM für eine ächte oder
für eine gefälschte Volksvertretung anzusehen ist.

Die Schwierigkeiten, welche es zu überwinden gilt, haben mit dem parla¬
mentarischen System im engern Sinne überhaupt nichts zu thun. Seit 80 Jah¬
ren besteht in Frankreich ein Verwaltungssystem, welches der Entwickelung des
Constitutionalismus so feindlich ist, wie kaum ein anderes in Europa. Die Ver¬
waltung des Landes ruht in den Händen einer Bureaukratie, welche alle
Gebiete des öffentlichen Lebens despotisch beherrscht, in der Gemeinde wie im
Departement jede selbständige Lebensregung unmöglich macht und einzig
dem Drucke gehorcht, den die leitenden Hände im Tuilerien-Palais und in
den ministeriellen Bureaux ausüben. Was vermag einem so fest geglieder¬
ten, so tief gewurzelten Beamtenstaat einem so unumschränkt maßgebenden
Verwaltungsrecht gegenüber die liberalste parlamentarische Verfassung?

Daß das gegenwärtige büreaukratische Verwaltungssystem Frankreichs,
schon weil es jede Selbständigkeit der untern und mittleren Kreise des Staats¬
lebens absolut unmöglich, jede Lebensregung von der Bureaukratie abhängig
macht, als Negation jedes wirklichen Constitutionalismus angesehen werden muß,
steht ebenso zweifellos fest wie, daß in Frankreich Niemand daran denkt, die All¬
macht dieses Systems zu brechen oder auch nur abzuschwächen. Nachdem diese ein¬
fache Wahrheit von tiefer blickenden Deutschen und Franzosen (wir brauchen
nur die Namen Tocqueville und Heinrich von Treitschke zu nennen) aufs evi¬
denteste nachgewiesen worden, ist unserer Meinung nach jeder Streit über
dieselbe ausgeschlossen und können nur noch Doctrinäre darüber discutirten. ob
das gegenwärtige Oorps 16gis1l>.til oder erst ein neugewähltes im Stande wäre,
das Kaiserthum mit dem Parlamentarismus zu versöhnen. Merkwürdig
genug, daß es trotz der Erfahrungen der letzten 20 Jahre diesseit wie jenseit
des Rheins noch immer Leute gibt, welche unbeirrt an den Traditionen des
vormärzlichen Liberalismus festhalten und immer noch übersehen, daß die con-
stitutionelle Freiheit eines entsprechenden Verwaltungssystems ebenso wenig
entmissen kann, wie einer clarte, welche die Theilnahme der Volksvertretung
an der Centralregierung sicher stellt.

Aber selbst abgesehen von der allgemeinen Natur der französischen Dinge,
liegen zahlreiche Gründe vor, welche dagegen sprechen, daß dem zweiten Kaiser¬
thum die Erreichung des Zieles gelingen könne, nach welchem Ludwig XVIII.
und die Julidynastie vergeblich gestrebt haben. Napoleon III., stützt sich auf ein
Heer, welches stärker, dynastischer und einflußreicher ist als die Armeen,
welche die letzten französischen Könige durch ihre Generale comman-
diren ließen. So lange er sich auf diese Armee stützen kann, wird es nicht
an Leuten fehlen, die Neigung und Energie reichlich genug besitzen, um der
Volksvertretung die Waage zu halten. Und diese Armee ist nicht die einzige


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Liberale sind und ob das gegenwärtige L!ol'i>8 iLgisl-rM für eine ächte oder
für eine gefälschte Volksvertretung anzusehen ist.

Die Schwierigkeiten, welche es zu überwinden gilt, haben mit dem parla¬
mentarischen System im engern Sinne überhaupt nichts zu thun. Seit 80 Jah¬
ren besteht in Frankreich ein Verwaltungssystem, welches der Entwickelung des
Constitutionalismus so feindlich ist, wie kaum ein anderes in Europa. Die Ver¬
waltung des Landes ruht in den Händen einer Bureaukratie, welche alle
Gebiete des öffentlichen Lebens despotisch beherrscht, in der Gemeinde wie im
Departement jede selbständige Lebensregung unmöglich macht und einzig
dem Drucke gehorcht, den die leitenden Hände im Tuilerien-Palais und in
den ministeriellen Bureaux ausüben. Was vermag einem so fest geglieder¬
ten, so tief gewurzelten Beamtenstaat einem so unumschränkt maßgebenden
Verwaltungsrecht gegenüber die liberalste parlamentarische Verfassung?

Daß das gegenwärtige büreaukratische Verwaltungssystem Frankreichs,
schon weil es jede Selbständigkeit der untern und mittleren Kreise des Staats¬
lebens absolut unmöglich, jede Lebensregung von der Bureaukratie abhängig
macht, als Negation jedes wirklichen Constitutionalismus angesehen werden muß,
steht ebenso zweifellos fest wie, daß in Frankreich Niemand daran denkt, die All¬
macht dieses Systems zu brechen oder auch nur abzuschwächen. Nachdem diese ein¬
fache Wahrheit von tiefer blickenden Deutschen und Franzosen (wir brauchen
nur die Namen Tocqueville und Heinrich von Treitschke zu nennen) aufs evi¬
denteste nachgewiesen worden, ist unserer Meinung nach jeder Streit über
dieselbe ausgeschlossen und können nur noch Doctrinäre darüber discutirten. ob
das gegenwärtige Oorps 16gis1l>.til oder erst ein neugewähltes im Stande wäre,
das Kaiserthum mit dem Parlamentarismus zu versöhnen. Merkwürdig
genug, daß es trotz der Erfahrungen der letzten 20 Jahre diesseit wie jenseit
des Rheins noch immer Leute gibt, welche unbeirrt an den Traditionen des
vormärzlichen Liberalismus festhalten und immer noch übersehen, daß die con-
stitutionelle Freiheit eines entsprechenden Verwaltungssystems ebenso wenig
entmissen kann, wie einer clarte, welche die Theilnahme der Volksvertretung
an der Centralregierung sicher stellt.

Aber selbst abgesehen von der allgemeinen Natur der französischen Dinge,
liegen zahlreiche Gründe vor, welche dagegen sprechen, daß dem zweiten Kaiser¬
thum die Erreichung des Zieles gelingen könne, nach welchem Ludwig XVIII.
und die Julidynastie vergeblich gestrebt haben. Napoleon III., stützt sich auf ein
Heer, welches stärker, dynastischer und einflußreicher ist als die Armeen,
welche die letzten französischen Könige durch ihre Generale comman-
diren ließen. So lange er sich auf diese Armee stützen kann, wird es nicht
an Leuten fehlen, die Neigung und Energie reichlich genug besitzen, um der
Volksvertretung die Waage zu halten. Und diese Armee ist nicht die einzige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/49>, abgerufen am 16.06.2024.