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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Partirerei behaftet sind, so tragen die bösen Türken die Schuld, welche unseren
angestammten Adel durch mehrere^ Jahrhunderte unterdrückt hatten. Aber
die Türken haben, soviel wir wissen, ihren Halbmond doch niemals über dem
Stuhl Petri aufgepflanzt. -- Wir im Norden sind unbehilflichen Geistes und
vermögen nicht leicht zu verstehen, wie eine Autorität in Angelegenheiten
des Glaubens unfehlbar sein kann, die zugleich in christlicher Moral so wenig
veredelnden Einfluß auf ihre nächste Umgebung auszuüben vermag. Wir
wünschen sehr, daß das Concilium uns diesen Zweifel löse.


?


Literatur.

Sicilianische Märchen. Aus dem Volksmund gesammelt von Laura Gonzen-
bach. Mit Anmerkungen Reinhold Köhlers herausgegeben von Otto Hartwig.
2 Thle. Leipzig. W. Engelmann. 1870.

Eine ganz vortreffliche Arbeit, in deren Herstellung sich die drei Genannten ge¬
theilt haben. Eine hochgebildete Frau von feinem Verständniß für das Charakte¬
ristische des sicilischen Volkes, in dem sie lebte, hat aus dem Munde Weiser Frauen
das Material aufgezeichnet, ein Freund, selbst mit Land und Bevölkerung der Insel
wohl bekannt, hat diese Berichte geordnet, gesichtet, für den Druck bereitet, Herr
Reinh. Köhler hat die literarhistorische Verwerthung übernommen, hat bei jedem
einzelnen Märchen die Verwandten in der Ueberlieferung anderer Völker verzeichnet
und einen reichen Apparat von Bemerkungen zugefügt, welcher die wissenschaftliche
Benutzung leicht und erfreulich macht. -- Vieles in der Sammlung ist sehr merk¬
würdig. Zunächst die Fülle des Stoffs, in Sicilien ist das Märchen noch ein
wesentlicher Theil lebendiger Volkspoesie, dann die -- übrigens nicht befremdende
enge Verwandtschaft der meisten Märchen mit germanischen, slavischen, griechischen.
Es enthält das Märchen im Ganzen betrachtet einen Schatz der Poesie, welcher
allen Völkern Europas gemeinsam ist, zu dem jede Zeit, jedes Volksthum bei¬
gesteuert hat: orientalisches, antikes, germanisches; auch slavischer, alt-neidischer und
mancher Besitz untergangener Völker sind darin bewahrt. Ferner aber haben die
hier zusammengestellten Märchen auch viel Nationales. Nicht nur in der Methode
der Erzählung und Redewendungen; auch die Volksmoral ist die sicilische, die Sehn¬
sucht und die Gelüste des Volkes, die übergroße Freude an seltsamen und gehäuften
Abenteuern, eine Phantasie, welche in manchem dem Orient näher steht, als den
Germanen, und ein Sinn, in dem wir zuweilen das Gemüthvolle, die geschlossene
Composition und eine gewisse ernste abwägende Billigkeit in Lohn und Strafe ver¬
missen. Die Märchen sind offenbar sehr treu aufgezeichnet, nur bei Darstellung der
geschlechtlichen Beziehungen scheint das Zartgefühl der Sammlerin häufig ins Nordische
gemildert zu haben. -- Für unsere reiche Märchenliteratur ist dies Werk eine so
werthvolle Bereicherung, wie seiner Zeit u. a. die isländischen Sagen von K. Maurer.




Verantwortlicher Redacteur: Gustav Freytag.
Verlag von F. L. Hervig. -- Druck von Hiithel " Legler in Leipzig.

Partirerei behaftet sind, so tragen die bösen Türken die Schuld, welche unseren
angestammten Adel durch mehrere^ Jahrhunderte unterdrückt hatten. Aber
die Türken haben, soviel wir wissen, ihren Halbmond doch niemals über dem
Stuhl Petri aufgepflanzt. — Wir im Norden sind unbehilflichen Geistes und
vermögen nicht leicht zu verstehen, wie eine Autorität in Angelegenheiten
des Glaubens unfehlbar sein kann, die zugleich in christlicher Moral so wenig
veredelnden Einfluß auf ihre nächste Umgebung auszuüben vermag. Wir
wünschen sehr, daß das Concilium uns diesen Zweifel löse.


?


Literatur.

Sicilianische Märchen. Aus dem Volksmund gesammelt von Laura Gonzen-
bach. Mit Anmerkungen Reinhold Köhlers herausgegeben von Otto Hartwig.
2 Thle. Leipzig. W. Engelmann. 1870.

Eine ganz vortreffliche Arbeit, in deren Herstellung sich die drei Genannten ge¬
theilt haben. Eine hochgebildete Frau von feinem Verständniß für das Charakte¬
ristische des sicilischen Volkes, in dem sie lebte, hat aus dem Munde Weiser Frauen
das Material aufgezeichnet, ein Freund, selbst mit Land und Bevölkerung der Insel
wohl bekannt, hat diese Berichte geordnet, gesichtet, für den Druck bereitet, Herr
Reinh. Köhler hat die literarhistorische Verwerthung übernommen, hat bei jedem
einzelnen Märchen die Verwandten in der Ueberlieferung anderer Völker verzeichnet
und einen reichen Apparat von Bemerkungen zugefügt, welcher die wissenschaftliche
Benutzung leicht und erfreulich macht. — Vieles in der Sammlung ist sehr merk¬
würdig. Zunächst die Fülle des Stoffs, in Sicilien ist das Märchen noch ein
wesentlicher Theil lebendiger Volkspoesie, dann die — übrigens nicht befremdende
enge Verwandtschaft der meisten Märchen mit germanischen, slavischen, griechischen.
Es enthält das Märchen im Ganzen betrachtet einen Schatz der Poesie, welcher
allen Völkern Europas gemeinsam ist, zu dem jede Zeit, jedes Volksthum bei¬
gesteuert hat: orientalisches, antikes, germanisches; auch slavischer, alt-neidischer und
mancher Besitz untergangener Völker sind darin bewahrt. Ferner aber haben die
hier zusammengestellten Märchen auch viel Nationales. Nicht nur in der Methode
der Erzählung und Redewendungen; auch die Volksmoral ist die sicilische, die Sehn¬
sucht und die Gelüste des Volkes, die übergroße Freude an seltsamen und gehäuften
Abenteuern, eine Phantasie, welche in manchem dem Orient näher steht, als den
Germanen, und ein Sinn, in dem wir zuweilen das Gemüthvolle, die geschlossene
Composition und eine gewisse ernste abwägende Billigkeit in Lohn und Strafe ver¬
missen. Die Märchen sind offenbar sehr treu aufgezeichnet, nur bei Darstellung der
geschlechtlichen Beziehungen scheint das Zartgefühl der Sammlerin häufig ins Nordische
gemildert zu haben. — Für unsere reiche Märchenliteratur ist dies Werk eine so
werthvolle Bereicherung, wie seiner Zeit u. a. die isländischen Sagen von K. Maurer.




Verantwortlicher Redacteur: Gustav Freytag.
Verlag von F. L. Hervig. — Druck von Hiithel » Legler in Leipzig.
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[0286] Partirerei behaftet sind, so tragen die bösen Türken die Schuld, welche unseren angestammten Adel durch mehrere^ Jahrhunderte unterdrückt hatten. Aber die Türken haben, soviel wir wissen, ihren Halbmond doch niemals über dem Stuhl Petri aufgepflanzt. — Wir im Norden sind unbehilflichen Geistes und vermögen nicht leicht zu verstehen, wie eine Autorität in Angelegenheiten des Glaubens unfehlbar sein kann, die zugleich in christlicher Moral so wenig veredelnden Einfluß auf ihre nächste Umgebung auszuüben vermag. Wir wünschen sehr, daß das Concilium uns diesen Zweifel löse. ? Literatur. Sicilianische Märchen. Aus dem Volksmund gesammelt von Laura Gonzen- bach. Mit Anmerkungen Reinhold Köhlers herausgegeben von Otto Hartwig. 2 Thle. Leipzig. W. Engelmann. 1870. Eine ganz vortreffliche Arbeit, in deren Herstellung sich die drei Genannten ge¬ theilt haben. Eine hochgebildete Frau von feinem Verständniß für das Charakte¬ ristische des sicilischen Volkes, in dem sie lebte, hat aus dem Munde Weiser Frauen das Material aufgezeichnet, ein Freund, selbst mit Land und Bevölkerung der Insel wohl bekannt, hat diese Berichte geordnet, gesichtet, für den Druck bereitet, Herr Reinh. Köhler hat die literarhistorische Verwerthung übernommen, hat bei jedem einzelnen Märchen die Verwandten in der Ueberlieferung anderer Völker verzeichnet und einen reichen Apparat von Bemerkungen zugefügt, welcher die wissenschaftliche Benutzung leicht und erfreulich macht. — Vieles in der Sammlung ist sehr merk¬ würdig. Zunächst die Fülle des Stoffs, in Sicilien ist das Märchen noch ein wesentlicher Theil lebendiger Volkspoesie, dann die — übrigens nicht befremdende enge Verwandtschaft der meisten Märchen mit germanischen, slavischen, griechischen. Es enthält das Märchen im Ganzen betrachtet einen Schatz der Poesie, welcher allen Völkern Europas gemeinsam ist, zu dem jede Zeit, jedes Volksthum bei¬ gesteuert hat: orientalisches, antikes, germanisches; auch slavischer, alt-neidischer und mancher Besitz untergangener Völker sind darin bewahrt. Ferner aber haben die hier zusammengestellten Märchen auch viel Nationales. Nicht nur in der Methode der Erzählung und Redewendungen; auch die Volksmoral ist die sicilische, die Sehn¬ sucht und die Gelüste des Volkes, die übergroße Freude an seltsamen und gehäuften Abenteuern, eine Phantasie, welche in manchem dem Orient näher steht, als den Germanen, und ein Sinn, in dem wir zuweilen das Gemüthvolle, die geschlossene Composition und eine gewisse ernste abwägende Billigkeit in Lohn und Strafe ver¬ missen. Die Märchen sind offenbar sehr treu aufgezeichnet, nur bei Darstellung der geschlechtlichen Beziehungen scheint das Zartgefühl der Sammlerin häufig ins Nordische gemildert zu haben. — Für unsere reiche Märchenliteratur ist dies Werk eine so werthvolle Bereicherung, wie seiner Zeit u. a. die isländischen Sagen von K. Maurer. Verantwortlicher Redacteur: Gustav Freytag. Verlag von F. L. Hervig. — Druck von Hiithel » Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/286>, abgerufen am 22.05.2024.