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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Die Eröffnung dieser "Russiversität" erfolgte am 24. Oktober mit russisch¬
kirchlichem Gesänge, der Curator von Witte und der neue Rector hielten
die Reden. Von dem letzteren wurde auch das Verzeichniß der Lehrer ver¬
lesen. Die Berufungen von Professoren aus den älteren russischen Universi¬
täten nach Warschau, welche zur Eröffnung nothwendig waren, sind insofern
charakteristisch, als diese selbst ihre Lehrkräfte aus Mangel an Professoren
nicht complet erhalten können. Es wird demnach sehr bald noch größerer
Mangel eintreten oder die Universitäten werden herabsinken. Die Zahl der
Besucher der Warschauer Hochschule ist schon im ersten Semester (1869--70)
um ein Drittel kleiner geworden und die neueren Maßnahmen drohen wei¬
tere Abnahme herbeizuführen. Die Einschreibegebühren konnten bisher in
Raten gezahlt werden, jetzt war der 8. December als Präclusivtermin bestimmt,
nach dem jeder Student, der nicht bezahlt hat, ohne Weiteres ausgeschlossen
wird. Ein Theil konnte nicht zahlen; es wurde nun zwar in der Stadt eine
Collecte veranstaltet, allein mit nur geringem Erfolge, da die Verarmung zu sehr
überHand genommen hat. In Folge der Umwandlung haben allein 6 Professoren,
5 Adjuncte und 1 Secretär polnischer Nationalität, die etatsmäßig angestellt
waren, ihre Stellen wegen mangelnder Kenntniß des Russischen eingebüßt.

Eine andere Art der moralischen Unterdrückung im Polenlande ist die
Degradation von etwa 300 unter den 442 Städten des Königreichs zu
Dörfern, angeblich, weil für sie die städtische Verwaltung zu theuer sei, sicher
aber, um das städtische polnisch-oppositionelle Element zu schwächen und, da
auch vielfach die Namen geändert wurden, das Andenken an die Geschichte
und Großthaten der polnischen Vorfahren zu zerstören. Das Verfahren be¬
gann erst im vorigen Jahre mit einigen Städtchen, bei denen es freilich
zweifelhaft war, ob irgend ein Schaden daraus entstände, da die Einwohner
meist von Ackerbau lebten, eigentlich Bauern waren und andere Gewerbe
nur nebenbei betrieben. Diese sollten sie künstig auch fortbetreiben und
ebenso ihre Märkte abhalten dürfen, aber keine Bürgermeister mehr mit dem
nöthigen Zubehör für etwa 3000 R. bezahlen, wie z. B. Rychwal, dem
dann die Dorfverwaltung nur 200 R. kostet. Somit scheint die Maßregel
der Degradation für die getroffenen Ortschaften recht vorsorglich. Aber die
städtischen Steuern werden ihnen einstweilen belassen, vielleicht in einigen
Jahren oder zeitigstes 1871 werden sie ermäßigt werden; an 180 Postexpe-
ditionen sind gleichzeitig aufgehoben und die Einwohner werden dadurch
mehr beeinträchtigt, als ihnen genützt wird. Nach dem Ukas beziehen die
bisherigen Bürgermeister noch zwei Jahre hindurch die Hälfte ihres Gehaltes
und haben, wenn sie nicht während dieser Zeit irgend eine andere Kron¬
anstellung erlangen, auf eine verhältnißmäßig höhere, als die ihnen von
Rechts wegen gebührende Pension Anspruch. Diese werden die neuen Dörfer


Die Eröffnung dieser „Russiversität" erfolgte am 24. Oktober mit russisch¬
kirchlichem Gesänge, der Curator von Witte und der neue Rector hielten
die Reden. Von dem letzteren wurde auch das Verzeichniß der Lehrer ver¬
lesen. Die Berufungen von Professoren aus den älteren russischen Universi¬
täten nach Warschau, welche zur Eröffnung nothwendig waren, sind insofern
charakteristisch, als diese selbst ihre Lehrkräfte aus Mangel an Professoren
nicht complet erhalten können. Es wird demnach sehr bald noch größerer
Mangel eintreten oder die Universitäten werden herabsinken. Die Zahl der
Besucher der Warschauer Hochschule ist schon im ersten Semester (1869—70)
um ein Drittel kleiner geworden und die neueren Maßnahmen drohen wei¬
tere Abnahme herbeizuführen. Die Einschreibegebühren konnten bisher in
Raten gezahlt werden, jetzt war der 8. December als Präclusivtermin bestimmt,
nach dem jeder Student, der nicht bezahlt hat, ohne Weiteres ausgeschlossen
wird. Ein Theil konnte nicht zahlen; es wurde nun zwar in der Stadt eine
Collecte veranstaltet, allein mit nur geringem Erfolge, da die Verarmung zu sehr
überHand genommen hat. In Folge der Umwandlung haben allein 6 Professoren,
5 Adjuncte und 1 Secretär polnischer Nationalität, die etatsmäßig angestellt
waren, ihre Stellen wegen mangelnder Kenntniß des Russischen eingebüßt.

Eine andere Art der moralischen Unterdrückung im Polenlande ist die
Degradation von etwa 300 unter den 442 Städten des Königreichs zu
Dörfern, angeblich, weil für sie die städtische Verwaltung zu theuer sei, sicher
aber, um das städtische polnisch-oppositionelle Element zu schwächen und, da
auch vielfach die Namen geändert wurden, das Andenken an die Geschichte
und Großthaten der polnischen Vorfahren zu zerstören. Das Verfahren be¬
gann erst im vorigen Jahre mit einigen Städtchen, bei denen es freilich
zweifelhaft war, ob irgend ein Schaden daraus entstände, da die Einwohner
meist von Ackerbau lebten, eigentlich Bauern waren und andere Gewerbe
nur nebenbei betrieben. Diese sollten sie künstig auch fortbetreiben und
ebenso ihre Märkte abhalten dürfen, aber keine Bürgermeister mehr mit dem
nöthigen Zubehör für etwa 3000 R. bezahlen, wie z. B. Rychwal, dem
dann die Dorfverwaltung nur 200 R. kostet. Somit scheint die Maßregel
der Degradation für die getroffenen Ortschaften recht vorsorglich. Aber die
städtischen Steuern werden ihnen einstweilen belassen, vielleicht in einigen
Jahren oder zeitigstes 1871 werden sie ermäßigt werden; an 180 Postexpe-
ditionen sind gleichzeitig aufgehoben und die Einwohner werden dadurch
mehr beeinträchtigt, als ihnen genützt wird. Nach dem Ukas beziehen die
bisherigen Bürgermeister noch zwei Jahre hindurch die Hälfte ihres Gehaltes
und haben, wenn sie nicht während dieser Zeit irgend eine andere Kron¬
anstellung erlangen, auf eine verhältnißmäßig höhere, als die ihnen von
Rechts wegen gebührende Pension Anspruch. Diese werden die neuen Dörfer


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[0107] Die Eröffnung dieser „Russiversität" erfolgte am 24. Oktober mit russisch¬ kirchlichem Gesänge, der Curator von Witte und der neue Rector hielten die Reden. Von dem letzteren wurde auch das Verzeichniß der Lehrer ver¬ lesen. Die Berufungen von Professoren aus den älteren russischen Universi¬ täten nach Warschau, welche zur Eröffnung nothwendig waren, sind insofern charakteristisch, als diese selbst ihre Lehrkräfte aus Mangel an Professoren nicht complet erhalten können. Es wird demnach sehr bald noch größerer Mangel eintreten oder die Universitäten werden herabsinken. Die Zahl der Besucher der Warschauer Hochschule ist schon im ersten Semester (1869—70) um ein Drittel kleiner geworden und die neueren Maßnahmen drohen wei¬ tere Abnahme herbeizuführen. Die Einschreibegebühren konnten bisher in Raten gezahlt werden, jetzt war der 8. December als Präclusivtermin bestimmt, nach dem jeder Student, der nicht bezahlt hat, ohne Weiteres ausgeschlossen wird. Ein Theil konnte nicht zahlen; es wurde nun zwar in der Stadt eine Collecte veranstaltet, allein mit nur geringem Erfolge, da die Verarmung zu sehr überHand genommen hat. In Folge der Umwandlung haben allein 6 Professoren, 5 Adjuncte und 1 Secretär polnischer Nationalität, die etatsmäßig angestellt waren, ihre Stellen wegen mangelnder Kenntniß des Russischen eingebüßt. Eine andere Art der moralischen Unterdrückung im Polenlande ist die Degradation von etwa 300 unter den 442 Städten des Königreichs zu Dörfern, angeblich, weil für sie die städtische Verwaltung zu theuer sei, sicher aber, um das städtische polnisch-oppositionelle Element zu schwächen und, da auch vielfach die Namen geändert wurden, das Andenken an die Geschichte und Großthaten der polnischen Vorfahren zu zerstören. Das Verfahren be¬ gann erst im vorigen Jahre mit einigen Städtchen, bei denen es freilich zweifelhaft war, ob irgend ein Schaden daraus entstände, da die Einwohner meist von Ackerbau lebten, eigentlich Bauern waren und andere Gewerbe nur nebenbei betrieben. Diese sollten sie künstig auch fortbetreiben und ebenso ihre Märkte abhalten dürfen, aber keine Bürgermeister mehr mit dem nöthigen Zubehör für etwa 3000 R. bezahlen, wie z. B. Rychwal, dem dann die Dorfverwaltung nur 200 R. kostet. Somit scheint die Maßregel der Degradation für die getroffenen Ortschaften recht vorsorglich. Aber die städtischen Steuern werden ihnen einstweilen belassen, vielleicht in einigen Jahren oder zeitigstes 1871 werden sie ermäßigt werden; an 180 Postexpe- ditionen sind gleichzeitig aufgehoben und die Einwohner werden dadurch mehr beeinträchtigt, als ihnen genützt wird. Nach dem Ukas beziehen die bisherigen Bürgermeister noch zwei Jahre hindurch die Hälfte ihres Gehaltes und haben, wenn sie nicht während dieser Zeit irgend eine andere Kron¬ anstellung erlangen, auf eine verhältnißmäßig höhere, als die ihnen von Rechts wegen gebührende Pension Anspruch. Diese werden die neuen Dörfer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/107>, abgerufen am 17.06.2024.