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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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doch auch bezahlen müssen. Zugleich hatte der Kaiser befohlen, die desfall-
sigen Veränderungen nicht auf einmal, sondern allmälig und in einer für
alle Betheiligten möglichst schonenden Weise einzuführen. Aber nähere Be¬
stimmungen waren dem Statthalter und einem Warschauer Organisations¬
comite übertragen. Diesem also, nicht dem Kaiser ist es anzurechnen, wenn
bei der Organisation höchst demüthigende Namensveränderungen vorgenom¬
men wurden, wie z. B. Wislica, von dem das erste Gesetzbuch Polens (1347)
den Namen trägt, den eines anstoßenden Dorfes erhalten hat. Und was
geschieht darauf: die Einwohner einer großen Anzahl solcher neuen Dörfer
haben Dankadressen an den Kaiser gerichtet! Ueber die Entstehung dieser
Schriftstücke wird sich die historische Kritik der Zukunft den Kopf so wenig
zu zerbrechen haben, wie die Zeugen von heute. Als Illustration zu der
ganzen Maßregel muß man das Decret beachten, welches im Mai d. I.
der Gouverneur von Raton erlassen hat und waches besagt, "daß Jsiaeliten,
wenn sie auch in Orten wohnen, die jetzt Dörfer sind, dennoch nicht als
Bauern anzusehen seien (d. h. also keine Stimme in der Gemeinde
haben), da dieser Begriff nur auf Christen anzuwenden sei!"
Der Weg der Klage ist in Folge des Kriegszustandes abgeschnitten. --

Während hier Rußland mit der einen Hand jedes Aufflackern der polni¬
schen Nationalität erstickt, streckt es, vom Dämon seiner Traditionen getrie¬
ben, die andere Hand unaufhaltsam nach dem Besitze von Ländern aus, die
es für seine Interessen für wünschenswert!) hält. In erster Reihe steht die
Türkei. Der russische Gesandte Jgnatieff in Konstantinopel sucht gute Be¬
ziehungen zur Pforte zu erhalten, um nach und nach vollständig ihre Lei¬
tung zu gewinnen und sie zu bewegen, mit Rußland im EinVerständniß zu
bleiben und zu handeln. Gleichzeitig hat sich aber Rußland alle Wege ge¬
ebnet, die Pforte zu verschlingen, wenn sie seinen Rathschlägen nicht Gehör
schenken, aus seine Pläne nicht eingehen sollte. Mit Aegypten und Griechen¬
land steht es im besten Einvernehmen und Persien ist durch die russische
Diplomatie vollständig beeinflußt. Diesen Einfluß begann sie auszuüben,
nachdem die Perser in dem Streite um Herat von den Engländern (1856/7)
mehrmals geschlagen und zu einem Friedensverträge (am 4. März 1857 zu
Paris geschlossen) veranlaßt wurden, der ihnen vielerlei Beschränkungen ihrer
Selbständigkeit auferlegte und England bei allen Streitigkeiten so gut wie
zum Schiedsrichter machte. Die Fortschritte der russischen Waffen im Osten
bedürfen eingehenderer Darstellung, als in diesem Zusammenhang gegeben
werden könnte. Es entwickeln sich dort neue Zustände, die in ihren Cor"
sequenzen ebenso verhängnißvoll werden können wie ihre militärische und
diplomatische Introduction glänzend erscheint.


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doch auch bezahlen müssen. Zugleich hatte der Kaiser befohlen, die desfall-
sigen Veränderungen nicht auf einmal, sondern allmälig und in einer für
alle Betheiligten möglichst schonenden Weise einzuführen. Aber nähere Be¬
stimmungen waren dem Statthalter und einem Warschauer Organisations¬
comite übertragen. Diesem also, nicht dem Kaiser ist es anzurechnen, wenn
bei der Organisation höchst demüthigende Namensveränderungen vorgenom¬
men wurden, wie z. B. Wislica, von dem das erste Gesetzbuch Polens (1347)
den Namen trägt, den eines anstoßenden Dorfes erhalten hat. Und was
geschieht darauf: die Einwohner einer großen Anzahl solcher neuen Dörfer
haben Dankadressen an den Kaiser gerichtet! Ueber die Entstehung dieser
Schriftstücke wird sich die historische Kritik der Zukunft den Kopf so wenig
zu zerbrechen haben, wie die Zeugen von heute. Als Illustration zu der
ganzen Maßregel muß man das Decret beachten, welches im Mai d. I.
der Gouverneur von Raton erlassen hat und waches besagt, „daß Jsiaeliten,
wenn sie auch in Orten wohnen, die jetzt Dörfer sind, dennoch nicht als
Bauern anzusehen seien (d. h. also keine Stimme in der Gemeinde
haben), da dieser Begriff nur auf Christen anzuwenden sei!"
Der Weg der Klage ist in Folge des Kriegszustandes abgeschnitten. —

Während hier Rußland mit der einen Hand jedes Aufflackern der polni¬
schen Nationalität erstickt, streckt es, vom Dämon seiner Traditionen getrie¬
ben, die andere Hand unaufhaltsam nach dem Besitze von Ländern aus, die
es für seine Interessen für wünschenswert!) hält. In erster Reihe steht die
Türkei. Der russische Gesandte Jgnatieff in Konstantinopel sucht gute Be¬
ziehungen zur Pforte zu erhalten, um nach und nach vollständig ihre Lei¬
tung zu gewinnen und sie zu bewegen, mit Rußland im EinVerständniß zu
bleiben und zu handeln. Gleichzeitig hat sich aber Rußland alle Wege ge¬
ebnet, die Pforte zu verschlingen, wenn sie seinen Rathschlägen nicht Gehör
schenken, aus seine Pläne nicht eingehen sollte. Mit Aegypten und Griechen¬
land steht es im besten Einvernehmen und Persien ist durch die russische
Diplomatie vollständig beeinflußt. Diesen Einfluß begann sie auszuüben,
nachdem die Perser in dem Streite um Herat von den Engländern (1856/7)
mehrmals geschlagen und zu einem Friedensverträge (am 4. März 1857 zu
Paris geschlossen) veranlaßt wurden, der ihnen vielerlei Beschränkungen ihrer
Selbständigkeit auferlegte und England bei allen Streitigkeiten so gut wie
zum Schiedsrichter machte. Die Fortschritte der russischen Waffen im Osten
bedürfen eingehenderer Darstellung, als in diesem Zusammenhang gegeben
werden könnte. Es entwickeln sich dort neue Zustände, die in ihren Cor«
sequenzen ebenso verhängnißvoll werden können wie ihre militärische und
diplomatische Introduction glänzend erscheint.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/108>, abgerufen am 17.06.2024.