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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Denn Schleiermacher's Genie lag darin, ganz für sich zu existiren indem
er sich dennoch ganz hingab. Schleiermacher's Geheimniß war, diesen eigent¬
lich weiblichen Zug mit der festesten Männlichkeit zu verbinden. Er war
Theologe von Naturanlage. Seine Bestimmung war, die Menschen zu suchen
und, indem er sich in ihre Verirrungen mit hineinbegab, sie, und sich selbst
mit, diesen Verirrungen dann zu entreißen. Schletermacher, wie er uns bisher
aus seinen Briefen und aus durch Tradition empfangener persönlicher Er¬
innerung in der öffentlichen Thätigkeit seiner zweiten Lebenshälfte zumeist
entgegentrat, hatte etwas Problematisches: man begriff nicht, wie so viel Klar¬
heit, Energie und Offenheit des Charakters sich nicht aus dem Bereiche
öffentlicher Verhältnisse lieber zurückzog oder zurückzuziehn sich gezwungen
sah, in denen weder Energie, noch Klarheit oder gar Offenheit gewollt
wurden, sondern in denen sie ein Vorwurf waren und zu Conflikten führen
mußten. Aus Dilthey's Darstellung der Jugendjahre empfangen wir jetzt die
Lösung dieses Räthsels. Wir lernen die Entwicklung eines der eigenthüm¬
lichsten von den Menschen kennen, die innerhalb der großen Bewegung mit¬
gearbeitet haben: eines Menschen, der alles anzugreifen verstand, alles einsah,
überall anzuthun suchte, und dessen einzige Arbeit doch nur darin bestand,
an sich selbst zu arbeiten, der verglichen mit Andern scheinbar unproducttv
dastand und doch mehr als die Meisten zu Stande brachte. Denn während
die Andern individuelle Werke aufbauen, geht er, als ewiger Dolmetscher
gleichsam, vom Einen zum Andern, um sich und ihnen ihre und seine Ge¬
danken zu erklären. All sein Thun hat einen directen Zweck. Er will stets
dem Publikum zu Leibe. Und diese Natur nun localisirt, um den Ausdruck
zu brauchen, das Schicksal gerade an der Stätte, wo für sie allein in Deutsch¬
land günstiger Boden sich fand: in Berlin.

Goethe spricht (bei der Erklärung des Charakters Voltaire's) den Satz
aus: daß von Zeit zu Zeit gewisse Individuen erscheinen, in denen eine
herrschende Familie oder eine Nation die Quintessenz ihres Wesens ver-
körpert. Louis XIV. und Voltaire sind ihm so die Repräsentanten der
Familie Bourbon und der französischen Nation des 18. Jahrhunderts; als die
Männer erscheinen sie beide, in denen die Glanz- und Schattenseiten der Fa¬
milie und des Volkes am tiefsten und hellsten miteinander harmonisch ver-
bunden waren. Wenden wir uns vom Begriffe Familie oder Volk zu dem
einer großen Stadt, so läßt sich sagen, daß Schleiermacher der edelste Re¬
präsentant des Berliner Geistes gewesen sei, wie er sich bis in die zwanziger
Jahre unseres Jahrhunderts manifestirte, wesentlich verschieden von dem was
er heute ist.

Berlin war auch damals bereits die Hauptstadt Deutschlands, aber ganz
im Stillen! Man wagte dergleichen kaum zu denken, aber man suchte doch


Denn Schleiermacher's Genie lag darin, ganz für sich zu existiren indem
er sich dennoch ganz hingab. Schleiermacher's Geheimniß war, diesen eigent¬
lich weiblichen Zug mit der festesten Männlichkeit zu verbinden. Er war
Theologe von Naturanlage. Seine Bestimmung war, die Menschen zu suchen
und, indem er sich in ihre Verirrungen mit hineinbegab, sie, und sich selbst
mit, diesen Verirrungen dann zu entreißen. Schletermacher, wie er uns bisher
aus seinen Briefen und aus durch Tradition empfangener persönlicher Er¬
innerung in der öffentlichen Thätigkeit seiner zweiten Lebenshälfte zumeist
entgegentrat, hatte etwas Problematisches: man begriff nicht, wie so viel Klar¬
heit, Energie und Offenheit des Charakters sich nicht aus dem Bereiche
öffentlicher Verhältnisse lieber zurückzog oder zurückzuziehn sich gezwungen
sah, in denen weder Energie, noch Klarheit oder gar Offenheit gewollt
wurden, sondern in denen sie ein Vorwurf waren und zu Conflikten führen
mußten. Aus Dilthey's Darstellung der Jugendjahre empfangen wir jetzt die
Lösung dieses Räthsels. Wir lernen die Entwicklung eines der eigenthüm¬
lichsten von den Menschen kennen, die innerhalb der großen Bewegung mit¬
gearbeitet haben: eines Menschen, der alles anzugreifen verstand, alles einsah,
überall anzuthun suchte, und dessen einzige Arbeit doch nur darin bestand,
an sich selbst zu arbeiten, der verglichen mit Andern scheinbar unproducttv
dastand und doch mehr als die Meisten zu Stande brachte. Denn während
die Andern individuelle Werke aufbauen, geht er, als ewiger Dolmetscher
gleichsam, vom Einen zum Andern, um sich und ihnen ihre und seine Ge¬
danken zu erklären. All sein Thun hat einen directen Zweck. Er will stets
dem Publikum zu Leibe. Und diese Natur nun localisirt, um den Ausdruck
zu brauchen, das Schicksal gerade an der Stätte, wo für sie allein in Deutsch¬
land günstiger Boden sich fand: in Berlin.

Goethe spricht (bei der Erklärung des Charakters Voltaire's) den Satz
aus: daß von Zeit zu Zeit gewisse Individuen erscheinen, in denen eine
herrschende Familie oder eine Nation die Quintessenz ihres Wesens ver-
körpert. Louis XIV. und Voltaire sind ihm so die Repräsentanten der
Familie Bourbon und der französischen Nation des 18. Jahrhunderts; als die
Männer erscheinen sie beide, in denen die Glanz- und Schattenseiten der Fa¬
milie und des Volkes am tiefsten und hellsten miteinander harmonisch ver-
bunden waren. Wenden wir uns vom Begriffe Familie oder Volk zu dem
einer großen Stadt, so läßt sich sagen, daß Schleiermacher der edelste Re¬
präsentant des Berliner Geistes gewesen sei, wie er sich bis in die zwanziger
Jahre unseres Jahrhunderts manifestirte, wesentlich verschieden von dem was
er heute ist.

Berlin war auch damals bereits die Hauptstadt Deutschlands, aber ganz
im Stillen! Man wagte dergleichen kaum zu denken, aber man suchte doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/12>, abgerufen am 19.05.2024.