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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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privatissime so zu leben, daß den Blicken späterer Generationen wenigstens
die verhüllten Gedanken und verschwiegenen Wünsche nicht ganz unerkennbar
wären. Man war sich der allgemeinen deutschen Misere im preußischen Ber¬
lin doch am klarsten bewußt, suchte die politische Leere am meisten systema¬
tisch mit geistiger Arbeit zu ersetzen und durfte hier und da ungestraft sym¬
bolisch (durch einen schlechten Witz, dem nicht beizukommen war) seinem Ge¬
fühle Ausdruck verleihen. Zwar hatte diese Gesinnung keinen großen
Wirkungskreis. Berlin lag weit ab vom übrigen Deutschland, weiter als
Königsberg heute. Was am Rheine, in Göttingen, in Sachsen, in Süd¬
deutschland damals ein berühmter Mann und seines Publikums sicher war,
hatte einen endlichen gloriosen Ruf und Einzug nach Berlin wohl kaum in
Gedanken, und doch saßen in Berlin die Männer, die es vielleicht hätten
machen können, wäre der eigne Wille durch obrigkeitliche Bewilligung dazu
erhoben worden. Unter diesen Männern bewegte sich Schleiermacher als
einer der ersten, Ohne seiner Würde etwas zu vergeben, war er in den ge¬
drücktesten politischen Zeiten in Staat und Kirche mächtig und brauchte seine
Unabhängigkeit nie mit blanker Waffe zu vertheidigen. Er kannte das Fahr¬
wasser zu genau. Er durfte zwischen Klippen hindurch, die manchen Andern
zu Grunde gehen ließen oder wenigstens aufhielten, seinerseits sogar mit
vollen Segeln fahren, und Viele gingen sicher der Linie nach, die er zog, und
priesen die Existenz des Mannes und betrauerten seinen endlichen Verlust als
unersetzlich.

Diese Zeiten und Zustände Berlins zeigt Dilthey's erster Band natür¬
lich noch nicht, allein wir müssen sie doch vergleichend im Auge halten bei
dem von ihm gegebenen Bilde der Stadt vor und während der französischen
Revolution, in deren Kreisen erst wir Schleiermacher seine Erfahrungen für
das spätere Amt gewinnen sehen. Berlin ist der Gravitationspunkt seiner
Existenz, er war völlig zu Hause da, um es in der Folge mit solcher Sicher¬
heit, man kann in gewissem Sinne wohl sagen: beherrschen zu können.
Schleiermacher kannte die Herren alle miteinander, hatte sie aufwachsen oder
zuziehen und sich acelimatisiren sehen, die selbst und deren Kinder dann sein
Publikum wurden. Er hatte ihre Denkweise inne und wußte ihre Sprache
zu reden. Und nicht die Herren allein, auch die Frauen kannte er. Er
wußte von allen Familien chemisch genau, wie viel Eisen sie im Blute hätten.
Und die Kunst dieser Chemie lernte er in jungen Jahren aus dem Grunde.
Praktische Menschenkenntnis war sein eigentliches Fach. Enkel eines religiösen
Schwärmers, Sohn eines Vaters, welcher, eigenem Geständnisse nach, spät
erst an die Dinge glauben lernt, die er lange seiner Gemeinde predigen
mußte, ohne daran zu glauben; Zögling einer herrenhuttschen Schule, be¬
schränkt durch äußere Armuth, bedrängende Familienverhältnisse, anklebende


privatissime so zu leben, daß den Blicken späterer Generationen wenigstens
die verhüllten Gedanken und verschwiegenen Wünsche nicht ganz unerkennbar
wären. Man war sich der allgemeinen deutschen Misere im preußischen Ber¬
lin doch am klarsten bewußt, suchte die politische Leere am meisten systema¬
tisch mit geistiger Arbeit zu ersetzen und durfte hier und da ungestraft sym¬
bolisch (durch einen schlechten Witz, dem nicht beizukommen war) seinem Ge¬
fühle Ausdruck verleihen. Zwar hatte diese Gesinnung keinen großen
Wirkungskreis. Berlin lag weit ab vom übrigen Deutschland, weiter als
Königsberg heute. Was am Rheine, in Göttingen, in Sachsen, in Süd¬
deutschland damals ein berühmter Mann und seines Publikums sicher war,
hatte einen endlichen gloriosen Ruf und Einzug nach Berlin wohl kaum in
Gedanken, und doch saßen in Berlin die Männer, die es vielleicht hätten
machen können, wäre der eigne Wille durch obrigkeitliche Bewilligung dazu
erhoben worden. Unter diesen Männern bewegte sich Schleiermacher als
einer der ersten, Ohne seiner Würde etwas zu vergeben, war er in den ge¬
drücktesten politischen Zeiten in Staat und Kirche mächtig und brauchte seine
Unabhängigkeit nie mit blanker Waffe zu vertheidigen. Er kannte das Fahr¬
wasser zu genau. Er durfte zwischen Klippen hindurch, die manchen Andern
zu Grunde gehen ließen oder wenigstens aufhielten, seinerseits sogar mit
vollen Segeln fahren, und Viele gingen sicher der Linie nach, die er zog, und
priesen die Existenz des Mannes und betrauerten seinen endlichen Verlust als
unersetzlich.

Diese Zeiten und Zustände Berlins zeigt Dilthey's erster Band natür¬
lich noch nicht, allein wir müssen sie doch vergleichend im Auge halten bei
dem von ihm gegebenen Bilde der Stadt vor und während der französischen
Revolution, in deren Kreisen erst wir Schleiermacher seine Erfahrungen für
das spätere Amt gewinnen sehen. Berlin ist der Gravitationspunkt seiner
Existenz, er war völlig zu Hause da, um es in der Folge mit solcher Sicher¬
heit, man kann in gewissem Sinne wohl sagen: beherrschen zu können.
Schleiermacher kannte die Herren alle miteinander, hatte sie aufwachsen oder
zuziehen und sich acelimatisiren sehen, die selbst und deren Kinder dann sein
Publikum wurden. Er hatte ihre Denkweise inne und wußte ihre Sprache
zu reden. Und nicht die Herren allein, auch die Frauen kannte er. Er
wußte von allen Familien chemisch genau, wie viel Eisen sie im Blute hätten.
Und die Kunst dieser Chemie lernte er in jungen Jahren aus dem Grunde.
Praktische Menschenkenntnis war sein eigentliches Fach. Enkel eines religiösen
Schwärmers, Sohn eines Vaters, welcher, eigenem Geständnisse nach, spät
erst an die Dinge glauben lernt, die er lange seiner Gemeinde predigen
mußte, ohne daran zu glauben; Zögling einer herrenhuttschen Schule, be¬
schränkt durch äußere Armuth, bedrängende Familienverhältnisse, anklebende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/13>, abgerufen am 19.05.2024.