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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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sondern verlegte nur den Sitz der höchsten Gewalt und machte dieselbe zu¬
gleich wieder abhängig von dem Einflüsse der Hauptstadt. Dreimal entschied
die Pariser Bevölkerung, der gegenüber die Departements willenlos waren,
über Frankreichs Geschick. Die Begründung des zweiten Kaiserthums gab
dem zerrütteten Organismus seine natürliche Spitze wieder.

Es wäre ungerecht, wenn man der Regierung Napoleons III. große Ver¬
dienste absprechen wollte. Napoleon III. machte unter Anwendung allerdings
ungerechtfertigter, ja verwerflicher Mittel, aber doch unter der Zustimmung
des französischen Volkes einem unhaltbaren Zustand der Dinge ein Ende.
Er hat in den ersten Jahren seiner Regierung Frankreich durch eine kühne
und zugleich gemäßigte und besonnene Politik, wenn auch nur vorübergehend,
zum Range der ersten Macht in Europa erhoben; er hat für die materielle
Hebung der untern Klassen mit Erfolg gewirkt; er hat durch seine Handels¬
verträge für Frankreich und einen großen Theil Europas eine neue Aera
des internationalen Verkehrs eingeleitet: ein Verdienst, das ihm um so höher
anzurechnen ist, als seine Handelspolitik mit den Ueberlieferungen der alt¬
französischen Staatskunst, die auch von der Mehrzahl der liberalen Staats¬
männer mit aller Zähigkeit des Vorurtheils (das nirgends eine so gewaltige
Macht besitzt als in Frankreich) festgehalten wurde, im schneidensten Wider¬
spruche stand.

Aber je schärfer und reiner das Centralisationsprincip im Imperialismus
sich verwirklicht hatte, um so schroffer trat auch der Widerspruch hervor, in
dem das Princip grade in seiner vollkommensten Gestalt mit dem Cultur¬
zustande und den politischen Bedürfnissen der Gegenwart steht. Das Kaiser¬
tum als Jncarnation des Centralisationsprincips erhebt den Anspruch, die
unabhängigste Macht, die es gibt, zu vertreten, die öffentliche Meinung.
Dieser Anspruch ließ sich nur durchführen, solange die Regierung sich auf
eine ununterbrochene Reihe von Erfolgen stützen konnte. Die erste Nieder¬
lage erschütterte das ganze System bis in seine Wurzeln. Die öffentliche Mei¬
nung wandte sich den hervorragenden unabhängigen Männern zu, auf denen
der Druck des centralisirenden Despotismus wie ein Bleigewicht lastete.
Und es wiederholte sich der alte Kreislauf. Man wollte die Macht nicht
beschränken, man wollte sie verlegen; des persönlichen Regimes überdrüssig,
verlangte man das parlamentarische Regime zurück. Die Parteiführer woll'
ten die Tribune und vermittelst ihrer die Herrschaft über Frankreich wieder,
erobern.

Dies Ziel hat Frankreich zunächst erreicht. Die Herrschaft ist von der
Person des Kaisers auf das Parlament übergegangen. Ob die Verlegung
der höchsten Macht auch zu einer Beschränkung derselben zu Gunsten der
communalen Freiheit führen oder ob Ollivier's Ministerium nur den Kreis¬
lauf der Ministerkrisen, die schließlich durch eine Reihe von Zwischenstufen


sondern verlegte nur den Sitz der höchsten Gewalt und machte dieselbe zu¬
gleich wieder abhängig von dem Einflüsse der Hauptstadt. Dreimal entschied
die Pariser Bevölkerung, der gegenüber die Departements willenlos waren,
über Frankreichs Geschick. Die Begründung des zweiten Kaiserthums gab
dem zerrütteten Organismus seine natürliche Spitze wieder.

Es wäre ungerecht, wenn man der Regierung Napoleons III. große Ver¬
dienste absprechen wollte. Napoleon III. machte unter Anwendung allerdings
ungerechtfertigter, ja verwerflicher Mittel, aber doch unter der Zustimmung
des französischen Volkes einem unhaltbaren Zustand der Dinge ein Ende.
Er hat in den ersten Jahren seiner Regierung Frankreich durch eine kühne
und zugleich gemäßigte und besonnene Politik, wenn auch nur vorübergehend,
zum Range der ersten Macht in Europa erhoben; er hat für die materielle
Hebung der untern Klassen mit Erfolg gewirkt; er hat durch seine Handels¬
verträge für Frankreich und einen großen Theil Europas eine neue Aera
des internationalen Verkehrs eingeleitet: ein Verdienst, das ihm um so höher
anzurechnen ist, als seine Handelspolitik mit den Ueberlieferungen der alt¬
französischen Staatskunst, die auch von der Mehrzahl der liberalen Staats¬
männer mit aller Zähigkeit des Vorurtheils (das nirgends eine so gewaltige
Macht besitzt als in Frankreich) festgehalten wurde, im schneidensten Wider¬
spruche stand.

Aber je schärfer und reiner das Centralisationsprincip im Imperialismus
sich verwirklicht hatte, um so schroffer trat auch der Widerspruch hervor, in
dem das Princip grade in seiner vollkommensten Gestalt mit dem Cultur¬
zustande und den politischen Bedürfnissen der Gegenwart steht. Das Kaiser¬
tum als Jncarnation des Centralisationsprincips erhebt den Anspruch, die
unabhängigste Macht, die es gibt, zu vertreten, die öffentliche Meinung.
Dieser Anspruch ließ sich nur durchführen, solange die Regierung sich auf
eine ununterbrochene Reihe von Erfolgen stützen konnte. Die erste Nieder¬
lage erschütterte das ganze System bis in seine Wurzeln. Die öffentliche Mei¬
nung wandte sich den hervorragenden unabhängigen Männern zu, auf denen
der Druck des centralisirenden Despotismus wie ein Bleigewicht lastete.
Und es wiederholte sich der alte Kreislauf. Man wollte die Macht nicht
beschränken, man wollte sie verlegen; des persönlichen Regimes überdrüssig,
verlangte man das parlamentarische Regime zurück. Die Parteiführer woll'
ten die Tribune und vermittelst ihrer die Herrschaft über Frankreich wieder,
erobern.

Dies Ziel hat Frankreich zunächst erreicht. Die Herrschaft ist von der
Person des Kaisers auf das Parlament übergegangen. Ob die Verlegung
der höchsten Macht auch zu einer Beschränkung derselben zu Gunsten der
communalen Freiheit führen oder ob Ollivier's Ministerium nur den Kreis¬
lauf der Ministerkrisen, die schließlich durch eine Reihe von Zwischenstufen


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[0136] sondern verlegte nur den Sitz der höchsten Gewalt und machte dieselbe zu¬ gleich wieder abhängig von dem Einflüsse der Hauptstadt. Dreimal entschied die Pariser Bevölkerung, der gegenüber die Departements willenlos waren, über Frankreichs Geschick. Die Begründung des zweiten Kaiserthums gab dem zerrütteten Organismus seine natürliche Spitze wieder. Es wäre ungerecht, wenn man der Regierung Napoleons III. große Ver¬ dienste absprechen wollte. Napoleon III. machte unter Anwendung allerdings ungerechtfertigter, ja verwerflicher Mittel, aber doch unter der Zustimmung des französischen Volkes einem unhaltbaren Zustand der Dinge ein Ende. Er hat in den ersten Jahren seiner Regierung Frankreich durch eine kühne und zugleich gemäßigte und besonnene Politik, wenn auch nur vorübergehend, zum Range der ersten Macht in Europa erhoben; er hat für die materielle Hebung der untern Klassen mit Erfolg gewirkt; er hat durch seine Handels¬ verträge für Frankreich und einen großen Theil Europas eine neue Aera des internationalen Verkehrs eingeleitet: ein Verdienst, das ihm um so höher anzurechnen ist, als seine Handelspolitik mit den Ueberlieferungen der alt¬ französischen Staatskunst, die auch von der Mehrzahl der liberalen Staats¬ männer mit aller Zähigkeit des Vorurtheils (das nirgends eine so gewaltige Macht besitzt als in Frankreich) festgehalten wurde, im schneidensten Wider¬ spruche stand. Aber je schärfer und reiner das Centralisationsprincip im Imperialismus sich verwirklicht hatte, um so schroffer trat auch der Widerspruch hervor, in dem das Princip grade in seiner vollkommensten Gestalt mit dem Cultur¬ zustande und den politischen Bedürfnissen der Gegenwart steht. Das Kaiser¬ tum als Jncarnation des Centralisationsprincips erhebt den Anspruch, die unabhängigste Macht, die es gibt, zu vertreten, die öffentliche Meinung. Dieser Anspruch ließ sich nur durchführen, solange die Regierung sich auf eine ununterbrochene Reihe von Erfolgen stützen konnte. Die erste Nieder¬ lage erschütterte das ganze System bis in seine Wurzeln. Die öffentliche Mei¬ nung wandte sich den hervorragenden unabhängigen Männern zu, auf denen der Druck des centralisirenden Despotismus wie ein Bleigewicht lastete. Und es wiederholte sich der alte Kreislauf. Man wollte die Macht nicht beschränken, man wollte sie verlegen; des persönlichen Regimes überdrüssig, verlangte man das parlamentarische Regime zurück. Die Parteiführer woll' ten die Tribune und vermittelst ihrer die Herrschaft über Frankreich wieder, erobern. Dies Ziel hat Frankreich zunächst erreicht. Die Herrschaft ist von der Person des Kaisers auf das Parlament übergegangen. Ob die Verlegung der höchsten Macht auch zu einer Beschränkung derselben zu Gunsten der communalen Freiheit führen oder ob Ollivier's Ministerium nur den Kreis¬ lauf der Ministerkrisen, die schließlich durch eine Reihe von Zwischenstufen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/136>, abgerufen am 17.06.2024.