Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hindurch immer wieder zum Cäsarismus als der vollkommensten Form des
Centralismus drängen, eröffnen wird, hängt lediglich von der Einsicht der
französischen Staatsmänner und der Reife des Volkes ab. Daß wir zu der¬
selben nur ein mäßiges Vertrauen haben, wird wohl durch den Gang der
neuen französischen Geschichte gerechtfertigt. Ein Land, in welchem Tocque-
ville zwar als großer politischer Schriftsteller viel Bewunderer, aber keine
Jünger gefunden hat, in dem man wagen konnte, eine Steigerung der Prä-
fectengewalt für einen Schritt auf der Bahn zur Selbstverwaltung auszu¬
geben, ein Land, dessen hervorragendste Staatsmänner, die einzigen, die bis
jetzt eine Schule bilden, die Freiheit als gleichbedeutend mit der absoluten
Herrschaft der Parlamentsmajorität ansehen: ein solches Land wird den Weg
zur Decentralisation. die den einflußreichsten Männern noch immer als ein
Abfall von der alten bewährten Tradition gilt und von deren Wesen auch
die verhältnißmäßig vorurteilsfreisten Köpfe noch immer sehr unklare Begriffe
haben, schwer finden. Immerhin ist es ein Beweis gesteigerter politischer
Reife, daß die neueste Umwälzung sich auf friedlichem Wege vollzogen hat.
Aber eine gelungene politische Evolution gibt doch noch keine Bürgschaft
dafür, daß in der Zeit des Druckes auch die Einsicht in die Grundlagen
der politischen Freiheit den französischen Staatsmännern aufgegangen sei.

Für jetzt steht nur so viel fest, daß diejenige Entwickelung, die Napoleon
vorgeschwebt hat, gewaltsam abgebrochen ist. Der Kaiser hielt sein System
für entwickelungsfähig; aber die Grundlage desselben galt ihm für unantast¬
bar. Ein Fortschritt zu Einrichtungen, die mit der persönlichen Verantwort¬
lichkeit des Staatsoberhaupts unvereinbar waren, war innerhalb seines
Systems unmöglich, und somit hat der Kaiser, wenn auch gewiß nicht ohne
Hintergedanken, durch Einführung verantwortlicher Minister den vollständig-
sten Bruch mit seiner Vergangenheit vollzogen, der sich überhaupt denken
läßt und der sich auch durch Aufrechthaltung des Plebiscits als eines wesent¬
lichen Gliedes in dem Organismus der Verfassung schwerlich wird rückgängig
machen lassen. Und was vielleicht noch bedeutungsvoller ist: der Kaiser hat
sein Geschick zunächst (allerdings müssen wir auch hier hinzufügen: gewiß
nicht ohne Hintergedanken und Vorbehalte) in die Hände von Männern ge¬
legt, die der rechtgläubige Imperialismus mit Acht und Bann belegt hat;
in die Hände von Männern, die eine bestimmte politische Ansicht als selb¬
ständige Staatsmänner zu vertreten beanspruchen, während der Kaiser an
den Dienst abhängiger Werkzeuge gewöhnt ist, deren beste Eigenschaft die
praktische Brauchbarkeit und administrative Routine war. Das Kaiserthum
hat tüchtige Beamte, aber vielleicht nicht einen einzigen Staatsmann erzogen,
daher der Kaiser in dem Augenblick, wo er staatsmännischer Kräfte bedürfte,
seine Existenz den Gegnern seines Systems vertrauen mußte.


Grenzboten III. 1870. 17

hindurch immer wieder zum Cäsarismus als der vollkommensten Form des
Centralismus drängen, eröffnen wird, hängt lediglich von der Einsicht der
französischen Staatsmänner und der Reife des Volkes ab. Daß wir zu der¬
selben nur ein mäßiges Vertrauen haben, wird wohl durch den Gang der
neuen französischen Geschichte gerechtfertigt. Ein Land, in welchem Tocque-
ville zwar als großer politischer Schriftsteller viel Bewunderer, aber keine
Jünger gefunden hat, in dem man wagen konnte, eine Steigerung der Prä-
fectengewalt für einen Schritt auf der Bahn zur Selbstverwaltung auszu¬
geben, ein Land, dessen hervorragendste Staatsmänner, die einzigen, die bis
jetzt eine Schule bilden, die Freiheit als gleichbedeutend mit der absoluten
Herrschaft der Parlamentsmajorität ansehen: ein solches Land wird den Weg
zur Decentralisation. die den einflußreichsten Männern noch immer als ein
Abfall von der alten bewährten Tradition gilt und von deren Wesen auch
die verhältnißmäßig vorurteilsfreisten Köpfe noch immer sehr unklare Begriffe
haben, schwer finden. Immerhin ist es ein Beweis gesteigerter politischer
Reife, daß die neueste Umwälzung sich auf friedlichem Wege vollzogen hat.
Aber eine gelungene politische Evolution gibt doch noch keine Bürgschaft
dafür, daß in der Zeit des Druckes auch die Einsicht in die Grundlagen
der politischen Freiheit den französischen Staatsmännern aufgegangen sei.

Für jetzt steht nur so viel fest, daß diejenige Entwickelung, die Napoleon
vorgeschwebt hat, gewaltsam abgebrochen ist. Der Kaiser hielt sein System
für entwickelungsfähig; aber die Grundlage desselben galt ihm für unantast¬
bar. Ein Fortschritt zu Einrichtungen, die mit der persönlichen Verantwort¬
lichkeit des Staatsoberhaupts unvereinbar waren, war innerhalb seines
Systems unmöglich, und somit hat der Kaiser, wenn auch gewiß nicht ohne
Hintergedanken, durch Einführung verantwortlicher Minister den vollständig-
sten Bruch mit seiner Vergangenheit vollzogen, der sich überhaupt denken
läßt und der sich auch durch Aufrechthaltung des Plebiscits als eines wesent¬
lichen Gliedes in dem Organismus der Verfassung schwerlich wird rückgängig
machen lassen. Und was vielleicht noch bedeutungsvoller ist: der Kaiser hat
sein Geschick zunächst (allerdings müssen wir auch hier hinzufügen: gewiß
nicht ohne Hintergedanken und Vorbehalte) in die Hände von Männern ge¬
legt, die der rechtgläubige Imperialismus mit Acht und Bann belegt hat;
in die Hände von Männern, die eine bestimmte politische Ansicht als selb¬
ständige Staatsmänner zu vertreten beanspruchen, während der Kaiser an
den Dienst abhängiger Werkzeuge gewöhnt ist, deren beste Eigenschaft die
praktische Brauchbarkeit und administrative Routine war. Das Kaiserthum
hat tüchtige Beamte, aber vielleicht nicht einen einzigen Staatsmann erzogen,
daher der Kaiser in dem Augenblick, wo er staatsmännischer Kräfte bedürfte,
seine Existenz den Gegnern seines Systems vertrauen mußte.


Grenzboten III. 1870. 17
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124287"/>
            <p xml:id="ID_368" prev="#ID_367"> hindurch immer wieder zum Cäsarismus als der vollkommensten Form des<lb/>
Centralismus drängen, eröffnen wird, hängt lediglich von der Einsicht der<lb/>
französischen Staatsmänner und der Reife des Volkes ab. Daß wir zu der¬<lb/>
selben nur ein mäßiges Vertrauen haben, wird wohl durch den Gang der<lb/>
neuen französischen Geschichte gerechtfertigt. Ein Land, in welchem Tocque-<lb/>
ville zwar als großer politischer Schriftsteller viel Bewunderer, aber keine<lb/>
Jünger gefunden hat, in dem man wagen konnte, eine Steigerung der Prä-<lb/>
fectengewalt für einen Schritt auf der Bahn zur Selbstverwaltung auszu¬<lb/>
geben, ein Land, dessen hervorragendste Staatsmänner, die einzigen, die bis<lb/>
jetzt eine Schule bilden, die Freiheit als gleichbedeutend mit der absoluten<lb/>
Herrschaft der Parlamentsmajorität ansehen: ein solches Land wird den Weg<lb/>
zur Decentralisation. die den einflußreichsten Männern noch immer als ein<lb/>
Abfall von der alten bewährten Tradition gilt und von deren Wesen auch<lb/>
die verhältnißmäßig vorurteilsfreisten Köpfe noch immer sehr unklare Begriffe<lb/>
haben, schwer finden. Immerhin ist es ein Beweis gesteigerter politischer<lb/>
Reife, daß die neueste Umwälzung sich auf friedlichem Wege vollzogen hat.<lb/>
Aber eine gelungene politische Evolution gibt doch noch keine Bürgschaft<lb/>
dafür, daß in der Zeit des Druckes auch die Einsicht in die Grundlagen<lb/>
der politischen Freiheit den französischen Staatsmännern aufgegangen sei.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_369"> Für jetzt steht nur so viel fest, daß diejenige Entwickelung, die Napoleon<lb/>
vorgeschwebt hat, gewaltsam abgebrochen ist. Der Kaiser hielt sein System<lb/>
für entwickelungsfähig; aber die Grundlage desselben galt ihm für unantast¬<lb/>
bar. Ein Fortschritt zu Einrichtungen, die mit der persönlichen Verantwort¬<lb/>
lichkeit des Staatsoberhaupts unvereinbar waren, war innerhalb seines<lb/>
Systems unmöglich, und somit hat der Kaiser, wenn auch gewiß nicht ohne<lb/>
Hintergedanken, durch Einführung verantwortlicher Minister den vollständig-<lb/>
sten Bruch mit seiner Vergangenheit vollzogen, der sich überhaupt denken<lb/>
läßt und der sich auch durch Aufrechthaltung des Plebiscits als eines wesent¬<lb/>
lichen Gliedes in dem Organismus der Verfassung schwerlich wird rückgängig<lb/>
machen lassen. Und was vielleicht noch bedeutungsvoller ist: der Kaiser hat<lb/>
sein Geschick zunächst (allerdings müssen wir auch hier hinzufügen: gewiß<lb/>
nicht ohne Hintergedanken und Vorbehalte) in die Hände von Männern ge¬<lb/>
legt, die der rechtgläubige Imperialismus mit Acht und Bann belegt hat;<lb/>
in die Hände von Männern, die eine bestimmte politische Ansicht als selb¬<lb/>
ständige Staatsmänner zu vertreten beanspruchen, während der Kaiser an<lb/>
den Dienst abhängiger Werkzeuge gewöhnt ist, deren beste Eigenschaft die<lb/>
praktische Brauchbarkeit und administrative Routine war. Das Kaiserthum<lb/>
hat tüchtige Beamte, aber vielleicht nicht einen einzigen Staatsmann erzogen,<lb/>
daher der Kaiser in dem Augenblick, wo er staatsmännischer Kräfte bedürfte,<lb/>
seine Existenz den Gegnern seines Systems vertrauen mußte.</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1870. 17</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0137] hindurch immer wieder zum Cäsarismus als der vollkommensten Form des Centralismus drängen, eröffnen wird, hängt lediglich von der Einsicht der französischen Staatsmänner und der Reife des Volkes ab. Daß wir zu der¬ selben nur ein mäßiges Vertrauen haben, wird wohl durch den Gang der neuen französischen Geschichte gerechtfertigt. Ein Land, in welchem Tocque- ville zwar als großer politischer Schriftsteller viel Bewunderer, aber keine Jünger gefunden hat, in dem man wagen konnte, eine Steigerung der Prä- fectengewalt für einen Schritt auf der Bahn zur Selbstverwaltung auszu¬ geben, ein Land, dessen hervorragendste Staatsmänner, die einzigen, die bis jetzt eine Schule bilden, die Freiheit als gleichbedeutend mit der absoluten Herrschaft der Parlamentsmajorität ansehen: ein solches Land wird den Weg zur Decentralisation. die den einflußreichsten Männern noch immer als ein Abfall von der alten bewährten Tradition gilt und von deren Wesen auch die verhältnißmäßig vorurteilsfreisten Köpfe noch immer sehr unklare Begriffe haben, schwer finden. Immerhin ist es ein Beweis gesteigerter politischer Reife, daß die neueste Umwälzung sich auf friedlichem Wege vollzogen hat. Aber eine gelungene politische Evolution gibt doch noch keine Bürgschaft dafür, daß in der Zeit des Druckes auch die Einsicht in die Grundlagen der politischen Freiheit den französischen Staatsmännern aufgegangen sei. Für jetzt steht nur so viel fest, daß diejenige Entwickelung, die Napoleon vorgeschwebt hat, gewaltsam abgebrochen ist. Der Kaiser hielt sein System für entwickelungsfähig; aber die Grundlage desselben galt ihm für unantast¬ bar. Ein Fortschritt zu Einrichtungen, die mit der persönlichen Verantwort¬ lichkeit des Staatsoberhaupts unvereinbar waren, war innerhalb seines Systems unmöglich, und somit hat der Kaiser, wenn auch gewiß nicht ohne Hintergedanken, durch Einführung verantwortlicher Minister den vollständig- sten Bruch mit seiner Vergangenheit vollzogen, der sich überhaupt denken läßt und der sich auch durch Aufrechthaltung des Plebiscits als eines wesent¬ lichen Gliedes in dem Organismus der Verfassung schwerlich wird rückgängig machen lassen. Und was vielleicht noch bedeutungsvoller ist: der Kaiser hat sein Geschick zunächst (allerdings müssen wir auch hier hinzufügen: gewiß nicht ohne Hintergedanken und Vorbehalte) in die Hände von Männern ge¬ legt, die der rechtgläubige Imperialismus mit Acht und Bann belegt hat; in die Hände von Männern, die eine bestimmte politische Ansicht als selb¬ ständige Staatsmänner zu vertreten beanspruchen, während der Kaiser an den Dienst abhängiger Werkzeuge gewöhnt ist, deren beste Eigenschaft die praktische Brauchbarkeit und administrative Routine war. Das Kaiserthum hat tüchtige Beamte, aber vielleicht nicht einen einzigen Staatsmann erzogen, daher der Kaiser in dem Augenblick, wo er staatsmännischer Kräfte bedürfte, seine Existenz den Gegnern seines Systems vertrauen mußte. Grenzboten III. 1870. 17

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/137
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/137>, abgerufen am 17.06.2024.