Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

merston's unruhiger inkonsequenter Charakter nicht inne. In seinem Aerger
darüber, daß England offenbar einem unpopulären Frieden zutrieb, stellte er
wiederholt ganz unmottvirt neue Forderungen, von denen früher nie die
Rede gewesen war und für die Niemand sich interessirte (wie z. B. die An¬
erkennung der Unabhängigkeit Cirkassiens), und gab dann rasch wieder nach,
wenn er sah, daß England von keiner der anderen Mächte unterstützt ward.
Dadurch ermuthigte er die Russen in ihrem Widerstande und erschwerte Cla-
rendons Stellung in Paris sehr, der verzweifelt, fast alleinstehend Fuß für
Fuß das Terrain des Ultimatums gegen die Intriguen Brünnow's und die
Nachgiebigkeit Walewski's zu vertheidigen hatte.

In dem Gefühl, wie unwillkommen dieser Friede, den er selbst nur als
Waffenstillstand ansah, in England sein werde, suchte er nun sich möglichst
vor Parlament und Presse zu rehabilitiren, indem er die Discussion anderer
europäischer Fragen auf dem Congreß in liberalem Sinne anregte. Zunächst
versuchte er dies mit der polnischen Frage, indem er von Rußland verlangte,
es solle sich verbindlich machen, einen Zustand in dem Königreich herzustellen,
der den Verträgen von 1815 entspreche. Graf Orloff erwiderte, daß sein
Gebieter eine vollkommene Reform der polnischen Zustände beabsichtige, sich
aber gegen andere Mächre in keiner Weise deshalb binden könne. Die
italienischen und griechischen Verhältnisse brachte Lord Clarendon allerdings
formell zur Sprache, vorläufig aber blieb es bei Conversationen, und wenn
man auch in England mit der Rolle zufrieden war, welche der brittische Be¬
vollmächtigte dabei gespielt, so fand man doch, daß er den Angriffen auf die
Freiheit der belgischen Presse nicht energisch genug entgegengetreten sei und
daß sein Vorschlag bei künftigen Verwickelungen zuerst an die guten Dienste
der anderen Mächte zu appelliren. ein frommer Wunsch bleiben werde. Mit
einem Wort. Lord Clarendon verlor in der entscheidenden Probe, auf die
seine staatsmännischen Fähigkeiten gestellt wurden, seine Popularität, obwohl
die gleiche oder größere Schuld der begangenen Fehler Lord Palmerston trifft.

Im Februar 1858 fiel Clarendon mit dem Palmerston'schen Ministerium
und ward im folgenden Jahre in dem Russell'schen zwar Mitglied, aber nur
in einer Sinecure, da Russell's Ehrgeiz darauf bestand, sich im auswärtigen
Amte zu versuchen. Man kann ihm daher keine directe Theilnahme an der
unfähigen Politik seines Collegen in der italienischen, amerikanischen und
Schleswig-holsteiruschen Frage vorwerfen, aber jedenfalls besaß er nicht Ein¬
fluß genug, sie zu hindern.

1861 ging er als außerordentlicher Botschafter zur Krönung des Königs
Wilhelm nach Königsberg und sprach sich bei der Gelegenheit sehr offen über
die deutschen Angelegenheiten aus. Er wünschte eine Consolidirung Deutsch¬
lands unter preußischer Führung, aber er war ein zu entschieden liberaler


merston's unruhiger inkonsequenter Charakter nicht inne. In seinem Aerger
darüber, daß England offenbar einem unpopulären Frieden zutrieb, stellte er
wiederholt ganz unmottvirt neue Forderungen, von denen früher nie die
Rede gewesen war und für die Niemand sich interessirte (wie z. B. die An¬
erkennung der Unabhängigkeit Cirkassiens), und gab dann rasch wieder nach,
wenn er sah, daß England von keiner der anderen Mächte unterstützt ward.
Dadurch ermuthigte er die Russen in ihrem Widerstande und erschwerte Cla-
rendons Stellung in Paris sehr, der verzweifelt, fast alleinstehend Fuß für
Fuß das Terrain des Ultimatums gegen die Intriguen Brünnow's und die
Nachgiebigkeit Walewski's zu vertheidigen hatte.

In dem Gefühl, wie unwillkommen dieser Friede, den er selbst nur als
Waffenstillstand ansah, in England sein werde, suchte er nun sich möglichst
vor Parlament und Presse zu rehabilitiren, indem er die Discussion anderer
europäischer Fragen auf dem Congreß in liberalem Sinne anregte. Zunächst
versuchte er dies mit der polnischen Frage, indem er von Rußland verlangte,
es solle sich verbindlich machen, einen Zustand in dem Königreich herzustellen,
der den Verträgen von 1815 entspreche. Graf Orloff erwiderte, daß sein
Gebieter eine vollkommene Reform der polnischen Zustände beabsichtige, sich
aber gegen andere Mächre in keiner Weise deshalb binden könne. Die
italienischen und griechischen Verhältnisse brachte Lord Clarendon allerdings
formell zur Sprache, vorläufig aber blieb es bei Conversationen, und wenn
man auch in England mit der Rolle zufrieden war, welche der brittische Be¬
vollmächtigte dabei gespielt, so fand man doch, daß er den Angriffen auf die
Freiheit der belgischen Presse nicht energisch genug entgegengetreten sei und
daß sein Vorschlag bei künftigen Verwickelungen zuerst an die guten Dienste
der anderen Mächte zu appelliren. ein frommer Wunsch bleiben werde. Mit
einem Wort. Lord Clarendon verlor in der entscheidenden Probe, auf die
seine staatsmännischen Fähigkeiten gestellt wurden, seine Popularität, obwohl
die gleiche oder größere Schuld der begangenen Fehler Lord Palmerston trifft.

Im Februar 1858 fiel Clarendon mit dem Palmerston'schen Ministerium
und ward im folgenden Jahre in dem Russell'schen zwar Mitglied, aber nur
in einer Sinecure, da Russell's Ehrgeiz darauf bestand, sich im auswärtigen
Amte zu versuchen. Man kann ihm daher keine directe Theilnahme an der
unfähigen Politik seines Collegen in der italienischen, amerikanischen und
Schleswig-holsteiruschen Frage vorwerfen, aber jedenfalls besaß er nicht Ein¬
fluß genug, sie zu hindern.

1861 ging er als außerordentlicher Botschafter zur Krönung des Königs
Wilhelm nach Königsberg und sprach sich bei der Gelegenheit sehr offen über
die deutschen Angelegenheiten aus. Er wünschte eine Consolidirung Deutsch¬
lands unter preußischer Führung, aber er war ein zu entschieden liberaler


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0152" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124302"/>
          <p xml:id="ID_401" prev="#ID_400"> merston's unruhiger inkonsequenter Charakter nicht inne. In seinem Aerger<lb/>
darüber, daß England offenbar einem unpopulären Frieden zutrieb, stellte er<lb/>
wiederholt ganz unmottvirt neue Forderungen, von denen früher nie die<lb/>
Rede gewesen war und für die Niemand sich interessirte (wie z. B. die An¬<lb/>
erkennung der Unabhängigkeit Cirkassiens), und gab dann rasch wieder nach,<lb/>
wenn er sah, daß England von keiner der anderen Mächte unterstützt ward.<lb/>
Dadurch ermuthigte er die Russen in ihrem Widerstande und erschwerte Cla-<lb/>
rendons Stellung in Paris sehr, der verzweifelt, fast alleinstehend Fuß für<lb/>
Fuß das Terrain des Ultimatums gegen die Intriguen Brünnow's und die<lb/>
Nachgiebigkeit Walewski's zu vertheidigen hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_402"> In dem Gefühl, wie unwillkommen dieser Friede, den er selbst nur als<lb/>
Waffenstillstand ansah, in England sein werde, suchte er nun sich möglichst<lb/>
vor Parlament und Presse zu rehabilitiren, indem er die Discussion anderer<lb/>
europäischer Fragen auf dem Congreß in liberalem Sinne anregte. Zunächst<lb/>
versuchte er dies mit der polnischen Frage, indem er von Rußland verlangte,<lb/>
es solle sich verbindlich machen, einen Zustand in dem Königreich herzustellen,<lb/>
der den Verträgen von 1815 entspreche. Graf Orloff erwiderte, daß sein<lb/>
Gebieter eine vollkommene Reform der polnischen Zustände beabsichtige, sich<lb/>
aber gegen andere Mächre in keiner Weise deshalb binden könne. Die<lb/>
italienischen und griechischen Verhältnisse brachte Lord Clarendon allerdings<lb/>
formell zur Sprache, vorläufig aber blieb es bei Conversationen, und wenn<lb/>
man auch in England mit der Rolle zufrieden war, welche der brittische Be¬<lb/>
vollmächtigte dabei gespielt, so fand man doch, daß er den Angriffen auf die<lb/>
Freiheit der belgischen Presse nicht energisch genug entgegengetreten sei und<lb/>
daß sein Vorschlag bei künftigen Verwickelungen zuerst an die guten Dienste<lb/>
der anderen Mächte zu appelliren. ein frommer Wunsch bleiben werde. Mit<lb/>
einem Wort. Lord Clarendon verlor in der entscheidenden Probe, auf die<lb/>
seine staatsmännischen Fähigkeiten gestellt wurden, seine Popularität, obwohl<lb/>
die gleiche oder größere Schuld der begangenen Fehler Lord Palmerston trifft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_403"> Im Februar 1858 fiel Clarendon mit dem Palmerston'schen Ministerium<lb/>
und ward im folgenden Jahre in dem Russell'schen zwar Mitglied, aber nur<lb/>
in einer Sinecure, da Russell's Ehrgeiz darauf bestand, sich im auswärtigen<lb/>
Amte zu versuchen. Man kann ihm daher keine directe Theilnahme an der<lb/>
unfähigen Politik seines Collegen in der italienischen, amerikanischen und<lb/>
Schleswig-holsteiruschen Frage vorwerfen, aber jedenfalls besaß er nicht Ein¬<lb/>
fluß genug, sie zu hindern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_404" next="#ID_405"> 1861 ging er als außerordentlicher Botschafter zur Krönung des Königs<lb/>
Wilhelm nach Königsberg und sprach sich bei der Gelegenheit sehr offen über<lb/>
die deutschen Angelegenheiten aus. Er wünschte eine Consolidirung Deutsch¬<lb/>
lands unter preußischer Führung, aber er war ein zu entschieden liberaler</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0152] merston's unruhiger inkonsequenter Charakter nicht inne. In seinem Aerger darüber, daß England offenbar einem unpopulären Frieden zutrieb, stellte er wiederholt ganz unmottvirt neue Forderungen, von denen früher nie die Rede gewesen war und für die Niemand sich interessirte (wie z. B. die An¬ erkennung der Unabhängigkeit Cirkassiens), und gab dann rasch wieder nach, wenn er sah, daß England von keiner der anderen Mächte unterstützt ward. Dadurch ermuthigte er die Russen in ihrem Widerstande und erschwerte Cla- rendons Stellung in Paris sehr, der verzweifelt, fast alleinstehend Fuß für Fuß das Terrain des Ultimatums gegen die Intriguen Brünnow's und die Nachgiebigkeit Walewski's zu vertheidigen hatte. In dem Gefühl, wie unwillkommen dieser Friede, den er selbst nur als Waffenstillstand ansah, in England sein werde, suchte er nun sich möglichst vor Parlament und Presse zu rehabilitiren, indem er die Discussion anderer europäischer Fragen auf dem Congreß in liberalem Sinne anregte. Zunächst versuchte er dies mit der polnischen Frage, indem er von Rußland verlangte, es solle sich verbindlich machen, einen Zustand in dem Königreich herzustellen, der den Verträgen von 1815 entspreche. Graf Orloff erwiderte, daß sein Gebieter eine vollkommene Reform der polnischen Zustände beabsichtige, sich aber gegen andere Mächre in keiner Weise deshalb binden könne. Die italienischen und griechischen Verhältnisse brachte Lord Clarendon allerdings formell zur Sprache, vorläufig aber blieb es bei Conversationen, und wenn man auch in England mit der Rolle zufrieden war, welche der brittische Be¬ vollmächtigte dabei gespielt, so fand man doch, daß er den Angriffen auf die Freiheit der belgischen Presse nicht energisch genug entgegengetreten sei und daß sein Vorschlag bei künftigen Verwickelungen zuerst an die guten Dienste der anderen Mächte zu appelliren. ein frommer Wunsch bleiben werde. Mit einem Wort. Lord Clarendon verlor in der entscheidenden Probe, auf die seine staatsmännischen Fähigkeiten gestellt wurden, seine Popularität, obwohl die gleiche oder größere Schuld der begangenen Fehler Lord Palmerston trifft. Im Februar 1858 fiel Clarendon mit dem Palmerston'schen Ministerium und ward im folgenden Jahre in dem Russell'schen zwar Mitglied, aber nur in einer Sinecure, da Russell's Ehrgeiz darauf bestand, sich im auswärtigen Amte zu versuchen. Man kann ihm daher keine directe Theilnahme an der unfähigen Politik seines Collegen in der italienischen, amerikanischen und Schleswig-holsteiruschen Frage vorwerfen, aber jedenfalls besaß er nicht Ein¬ fluß genug, sie zu hindern. 1861 ging er als außerordentlicher Botschafter zur Krönung des Königs Wilhelm nach Königsberg und sprach sich bei der Gelegenheit sehr offen über die deutschen Angelegenheiten aus. Er wünschte eine Consolidirung Deutsch¬ lands unter preußischer Führung, aber er war ein zu entschieden liberaler

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/152
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/152>, abgerufen am 17.06.2024.