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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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eigen Bildung, und im Jahre, da wir das Hegeljubiläum feiern, soll es nicht
vergessen werden, wem diese fruchtbarste Anregung vor Allem zu danken ist.

Und so bleibt uns gesichert, was wir als den Ecwerv des philosophi¬
schen Zeitalters zu schätzen haben. Wir stehen ihm fern genug, um es leiden¬
schaftslos zu betrachten, und es ist uns doch noch so verwandt, um mehr als
ein lediglich wissenschaftliches Interesse zu reizen. Indem wir uns über seine
Männer und deren Arbeit verständigen, ist dies noch immer unmittelbarer
Gewinn für uns selbst. Doppelt aber ist der Gewinn, wenn vollendete Kunst
uns ein Gemälde aus jener Z?it in unsere Gegenwart zaubert. Indem
Strauß sich an Voltaire machte, ist der rechte Mann an den rechten Stoff
gekommen. Der Charakterkvpf des Mannes, der fast ein Jahrhundert die
französische Bildung beherrschte, ist ein Vorwurf für den Pinsel eines großen
Künstlers. Strauß hat aus ihm ein Porträt ersten Ranges geschaffen.

Denn das ist es vor Allem, was den gebildeten Leser fesselt: er freut
sich bei jedem Schritt des vollendeten Kunstwerks. Und wie es immer bei
dem klassischen Werk ist, die Kunst verbirgt sich hinter der höchsten Ein¬
fachheit, sie scheint natürliche Leichtigkeit und Anmuth. Der Gelehrte, der Phi¬
losoph geht völlig auf im Erzähler, der doch immer im schicklichen Moment
zurückzuhalten weiß, um sich nicht in epische Breite zu verlieren. Gleich von
Anfang ist man mitten in der Sache. Keine lange Einleitung über die Ge¬
schichte der Menschheit im Allgemeinen, über die Bedeutung des Jahrhun¬
derts, über die literarischen und socialen Zustände Frankreichs. Anspruchs¬
los hebt der Griffel des Erzählers an, aber unvermerkt zeichnen sich uns
die bestimmten Umrisse des Mannes, den wir kennen lernen sollen, unver¬
merkt die Umrisse der ganzen Zeit, in die er werdend und wirkend hinein¬
gestellt ist. Wenige Striche, und die Personen stehen lebendig vor uns;
eine Anekdote, und die Interessen und Empfindungen der umgebenden Welt
werden uns vertraut. Die kleinen charakteristischen Züge der Erzählung ver¬
gegenwärtigen uns rascher den Geist der Epoche, als die breiteste Entwicke¬
lung zu thun vermöchte. In der Durchsichtigkeit des Stils ist noch die ur¬
sprüngliche Form des gesprochenen Worts zu erkennen. Die sechs Vorträge
sind vor der Prinzessin Alice, der zweiten Tochter der Königin Victoria ge°
halten und nunmehr ihr zugeeignet, das Denkmal einer heute selten gewor¬
denen Freundschaft zwischen einer fürstlichen Frau und einem philosophischen Geist.

Und noch ein besonderes Interesse knüpft sich an dieses Buch. Der
streitsertige rastlose Agitator, der den Franzosen als erster Repräsen¬
tant seines Zeitalters gilt, wird von einem Biographen geschildert, der
aus deutscher Seite im Mittelpunkt derselben Geistesbewegung steht, wie
sie sich in unserem Jahrhundert modificirt hat: der Franzose vom
Deutschen, der Mann des 18. Jahrhunderts von dem des 19. Jahr-


eigen Bildung, und im Jahre, da wir das Hegeljubiläum feiern, soll es nicht
vergessen werden, wem diese fruchtbarste Anregung vor Allem zu danken ist.

Und so bleibt uns gesichert, was wir als den Ecwerv des philosophi¬
schen Zeitalters zu schätzen haben. Wir stehen ihm fern genug, um es leiden¬
schaftslos zu betrachten, und es ist uns doch noch so verwandt, um mehr als
ein lediglich wissenschaftliches Interesse zu reizen. Indem wir uns über seine
Männer und deren Arbeit verständigen, ist dies noch immer unmittelbarer
Gewinn für uns selbst. Doppelt aber ist der Gewinn, wenn vollendete Kunst
uns ein Gemälde aus jener Z?it in unsere Gegenwart zaubert. Indem
Strauß sich an Voltaire machte, ist der rechte Mann an den rechten Stoff
gekommen. Der Charakterkvpf des Mannes, der fast ein Jahrhundert die
französische Bildung beherrschte, ist ein Vorwurf für den Pinsel eines großen
Künstlers. Strauß hat aus ihm ein Porträt ersten Ranges geschaffen.

Denn das ist es vor Allem, was den gebildeten Leser fesselt: er freut
sich bei jedem Schritt des vollendeten Kunstwerks. Und wie es immer bei
dem klassischen Werk ist, die Kunst verbirgt sich hinter der höchsten Ein¬
fachheit, sie scheint natürliche Leichtigkeit und Anmuth. Der Gelehrte, der Phi¬
losoph geht völlig auf im Erzähler, der doch immer im schicklichen Moment
zurückzuhalten weiß, um sich nicht in epische Breite zu verlieren. Gleich von
Anfang ist man mitten in der Sache. Keine lange Einleitung über die Ge¬
schichte der Menschheit im Allgemeinen, über die Bedeutung des Jahrhun¬
derts, über die literarischen und socialen Zustände Frankreichs. Anspruchs¬
los hebt der Griffel des Erzählers an, aber unvermerkt zeichnen sich uns
die bestimmten Umrisse des Mannes, den wir kennen lernen sollen, unver¬
merkt die Umrisse der ganzen Zeit, in die er werdend und wirkend hinein¬
gestellt ist. Wenige Striche, und die Personen stehen lebendig vor uns;
eine Anekdote, und die Interessen und Empfindungen der umgebenden Welt
werden uns vertraut. Die kleinen charakteristischen Züge der Erzählung ver¬
gegenwärtigen uns rascher den Geist der Epoche, als die breiteste Entwicke¬
lung zu thun vermöchte. In der Durchsichtigkeit des Stils ist noch die ur¬
sprüngliche Form des gesprochenen Worts zu erkennen. Die sechs Vorträge
sind vor der Prinzessin Alice, der zweiten Tochter der Königin Victoria ge°
halten und nunmehr ihr zugeeignet, das Denkmal einer heute selten gewor¬
denen Freundschaft zwischen einer fürstlichen Frau und einem philosophischen Geist.

Und noch ein besonderes Interesse knüpft sich an dieses Buch. Der
streitsertige rastlose Agitator, der den Franzosen als erster Repräsen¬
tant seines Zeitalters gilt, wird von einem Biographen geschildert, der
aus deutscher Seite im Mittelpunkt derselben Geistesbewegung steht, wie
sie sich in unserem Jahrhundert modificirt hat: der Franzose vom
Deutschen, der Mann des 18. Jahrhunderts von dem des 19. Jahr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/157>, abgerufen am 17.06.2024.