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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Hunderts. Die Parallele, die sich nicht blos auf die Materien, son.
dern auch auf die Mittel des Kampfs, bis auf den Stil und die Waffe
des Witzes hinaus erstreckt, drängt sich in jedem Augenblicke auf, und sie
wird gleichzeitig immer wieder abgelenkt. Denn es ist zwar eine natürliche
Sympathie, die der deutsche Verfasser für seinen Gegenstand empfindet, aber
er steht ihm zugleich in vollster Freiheit gegenüber. Sparsam mit dem
Urtheil, läßt er die Thatsachen selber reden. Nicht ein Gericht, so wenig
wie eine Lobrede will erhalten, sondern erzählen. "Lobrede wie Apologie",
sagt er, "sind die ungeeignetsten Wege, dem Wesen eines Menschen auf den
Grund zu kommen und seinen Werth zu bestimmen. Der einzig rechte Weg
dazu ist der, Lob und Tadel vorerst ganz aus dem Spiel zu lassen, dagegen
dem Lebens- und Entwickelungsgange desjenigen, den man sich zur Betrach¬
tung und Darstellung ausersehen hat, Schritt für Schritt nachzugehen, sein
Werden aus und in seiner Zeit wie sein Wirken auf dieselbe zu beobachten,
seine Werke, wenn es ein Schriftsteller ist, zu studiren, aus den Handlungen
seine Triebfedern und Gesinnungen, aus den Schriften seine Fähigkeiten und
Ansichten zu ermitteln, im Lichte den Schatten, aber auch im Schatten das
Licht aufzusuchen, und so zuletzt ein Gesammtbild vor sich und Andern auf¬
zustellen, dessen Ergebniß man um so weniger versucht sein wird, in einem
kurzen Schlagwort auszusprechen, je sorgfältiger die Beobachtung war und
je bedeutender der Mann ist, dem sie gegolten hat."

Wenn man in Voltaire gemeinhin das große Talent und den kleinen
Charakter unterscheidet, so zeigt Strauß, daß auch mit diesem allgemeinen
Urtheil nicht volle Gerechtigkeit geübt wird. Denn auch das Talent hat
seine Schwächen, und auch dem Charakter fehlt es nicht an edlen und lie¬
benswürdigen Seiten. Eine sorgfältig ordnende Hand gehörte dazu, um
Licht und Schatten billig zu vertheilen. Wir lernen den Mann kennen mit
all seinen Fehlern und Tugenden, mit all den widersprechenden Zügen, die
nur die oberflächliche Betrachtung mit einem einfachen Prädicat abzufertigen
vermag. Von den vielen unschönen Eigenschaften, die uns an der Person
Voltaire's aufstoßen, wird ihm nichts geschenkt, der Geiz und die Bosheit,
die Eitelkeit und die Rachsucht sind nicht verschwiegen. Doch der gleich-
müthige leidenschaftslose Vortrag verbreitet ein milderndes Licht auch über
die Fehler; es sind ja vergangene Dinge, die uns nichts mehr angehen, wäh¬
rend das Große, das Voltaire geleistet, bleibenden Werth besitzt. Und so ist
der Gesammteindruck, den wir von dem Spötter von Ferney erhalten, schlie߬
lich allerdings günstiger, als der allgemein geläufige, günstiger als er z. B.
noch bei Hettner erscheint; aber nicht, weil Strauß gegen die Schwächen sei¬
nes Helden nachsichtiger wäre, sondern weil er den endlichen Theil des be¬
deutenden Geistes mit überlegener Ironie zu behandeln weiß. Das Treffliche


Hunderts. Die Parallele, die sich nicht blos auf die Materien, son.
dern auch auf die Mittel des Kampfs, bis auf den Stil und die Waffe
des Witzes hinaus erstreckt, drängt sich in jedem Augenblicke auf, und sie
wird gleichzeitig immer wieder abgelenkt. Denn es ist zwar eine natürliche
Sympathie, die der deutsche Verfasser für seinen Gegenstand empfindet, aber
er steht ihm zugleich in vollster Freiheit gegenüber. Sparsam mit dem
Urtheil, läßt er die Thatsachen selber reden. Nicht ein Gericht, so wenig
wie eine Lobrede will erhalten, sondern erzählen. „Lobrede wie Apologie",
sagt er, „sind die ungeeignetsten Wege, dem Wesen eines Menschen auf den
Grund zu kommen und seinen Werth zu bestimmen. Der einzig rechte Weg
dazu ist der, Lob und Tadel vorerst ganz aus dem Spiel zu lassen, dagegen
dem Lebens- und Entwickelungsgange desjenigen, den man sich zur Betrach¬
tung und Darstellung ausersehen hat, Schritt für Schritt nachzugehen, sein
Werden aus und in seiner Zeit wie sein Wirken auf dieselbe zu beobachten,
seine Werke, wenn es ein Schriftsteller ist, zu studiren, aus den Handlungen
seine Triebfedern und Gesinnungen, aus den Schriften seine Fähigkeiten und
Ansichten zu ermitteln, im Lichte den Schatten, aber auch im Schatten das
Licht aufzusuchen, und so zuletzt ein Gesammtbild vor sich und Andern auf¬
zustellen, dessen Ergebniß man um so weniger versucht sein wird, in einem
kurzen Schlagwort auszusprechen, je sorgfältiger die Beobachtung war und
je bedeutender der Mann ist, dem sie gegolten hat."

Wenn man in Voltaire gemeinhin das große Talent und den kleinen
Charakter unterscheidet, so zeigt Strauß, daß auch mit diesem allgemeinen
Urtheil nicht volle Gerechtigkeit geübt wird. Denn auch das Talent hat
seine Schwächen, und auch dem Charakter fehlt es nicht an edlen und lie¬
benswürdigen Seiten. Eine sorgfältig ordnende Hand gehörte dazu, um
Licht und Schatten billig zu vertheilen. Wir lernen den Mann kennen mit
all seinen Fehlern und Tugenden, mit all den widersprechenden Zügen, die
nur die oberflächliche Betrachtung mit einem einfachen Prädicat abzufertigen
vermag. Von den vielen unschönen Eigenschaften, die uns an der Person
Voltaire's aufstoßen, wird ihm nichts geschenkt, der Geiz und die Bosheit,
die Eitelkeit und die Rachsucht sind nicht verschwiegen. Doch der gleich-
müthige leidenschaftslose Vortrag verbreitet ein milderndes Licht auch über
die Fehler; es sind ja vergangene Dinge, die uns nichts mehr angehen, wäh¬
rend das Große, das Voltaire geleistet, bleibenden Werth besitzt. Und so ist
der Gesammteindruck, den wir von dem Spötter von Ferney erhalten, schlie߬
lich allerdings günstiger, als der allgemein geläufige, günstiger als er z. B.
noch bei Hettner erscheint; aber nicht, weil Strauß gegen die Schwächen sei¬
nes Helden nachsichtiger wäre, sondern weil er den endlichen Theil des be¬
deutenden Geistes mit überlegener Ironie zu behandeln weiß. Das Treffliche


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[0158] Hunderts. Die Parallele, die sich nicht blos auf die Materien, son. dern auch auf die Mittel des Kampfs, bis auf den Stil und die Waffe des Witzes hinaus erstreckt, drängt sich in jedem Augenblicke auf, und sie wird gleichzeitig immer wieder abgelenkt. Denn es ist zwar eine natürliche Sympathie, die der deutsche Verfasser für seinen Gegenstand empfindet, aber er steht ihm zugleich in vollster Freiheit gegenüber. Sparsam mit dem Urtheil, läßt er die Thatsachen selber reden. Nicht ein Gericht, so wenig wie eine Lobrede will erhalten, sondern erzählen. „Lobrede wie Apologie", sagt er, „sind die ungeeignetsten Wege, dem Wesen eines Menschen auf den Grund zu kommen und seinen Werth zu bestimmen. Der einzig rechte Weg dazu ist der, Lob und Tadel vorerst ganz aus dem Spiel zu lassen, dagegen dem Lebens- und Entwickelungsgange desjenigen, den man sich zur Betrach¬ tung und Darstellung ausersehen hat, Schritt für Schritt nachzugehen, sein Werden aus und in seiner Zeit wie sein Wirken auf dieselbe zu beobachten, seine Werke, wenn es ein Schriftsteller ist, zu studiren, aus den Handlungen seine Triebfedern und Gesinnungen, aus den Schriften seine Fähigkeiten und Ansichten zu ermitteln, im Lichte den Schatten, aber auch im Schatten das Licht aufzusuchen, und so zuletzt ein Gesammtbild vor sich und Andern auf¬ zustellen, dessen Ergebniß man um so weniger versucht sein wird, in einem kurzen Schlagwort auszusprechen, je sorgfältiger die Beobachtung war und je bedeutender der Mann ist, dem sie gegolten hat." Wenn man in Voltaire gemeinhin das große Talent und den kleinen Charakter unterscheidet, so zeigt Strauß, daß auch mit diesem allgemeinen Urtheil nicht volle Gerechtigkeit geübt wird. Denn auch das Talent hat seine Schwächen, und auch dem Charakter fehlt es nicht an edlen und lie¬ benswürdigen Seiten. Eine sorgfältig ordnende Hand gehörte dazu, um Licht und Schatten billig zu vertheilen. Wir lernen den Mann kennen mit all seinen Fehlern und Tugenden, mit all den widersprechenden Zügen, die nur die oberflächliche Betrachtung mit einem einfachen Prädicat abzufertigen vermag. Von den vielen unschönen Eigenschaften, die uns an der Person Voltaire's aufstoßen, wird ihm nichts geschenkt, der Geiz und die Bosheit, die Eitelkeit und die Rachsucht sind nicht verschwiegen. Doch der gleich- müthige leidenschaftslose Vortrag verbreitet ein milderndes Licht auch über die Fehler; es sind ja vergangene Dinge, die uns nichts mehr angehen, wäh¬ rend das Große, das Voltaire geleistet, bleibenden Werth besitzt. Und so ist der Gesammteindruck, den wir von dem Spötter von Ferney erhalten, schlie߬ lich allerdings günstiger, als der allgemein geläufige, günstiger als er z. B. noch bei Hettner erscheint; aber nicht, weil Strauß gegen die Schwächen sei¬ nes Helden nachsichtiger wäre, sondern weil er den endlichen Theil des be¬ deutenden Geistes mit überlegener Ironie zu behandeln weiß. Das Treffliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/158>, abgerufen am 17.06.2024.