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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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wird mit warmem Antheil in das rechte Licht gerückt; über der ganzen
Darstellung aber schwebt eine glückliche Laune, die jede Spur von Vorein¬
genommenheit entfernt hält und auch dem Leser die behaglichste Stimmung
mittheilt.

Recht bezeichnend ist das Urtheil, mit welchem sich Strauß bei der einst
vielbewunderten und dann vielgeschmähten "Pucelle" Voltaire's bescheidet. Die
Dichtung, sagt er, ist aus dem frivolen Sinn der höheren Gesellschaftskreise
jener Zeit heraufgeschrieben, darum war sie der Zeit auch nach dem Sinne.
Wie sie nach und nach entstand und lange Jahre nur in Abschriften um"
ging, war, einer solchen habhaft zu werden, das Ziel eifriger Bewerbung
von Fürsten und Prinzessinnen, das Gedicht der feinste Leckerbissen, seine
Kenntniß gleichsam das geistige Erkennungszeichen der guten und besten Ge¬
sellschaft, Auch hatte das Gedicht für jene Zeit nur allzuviele Wahrheit;
die Frauen der höheren Kreise waren zum guten Theil so, wie sie hier ge¬
schildert wurden. Wir heutigen legen das Gedicht, nachdem es uns zuweilen
ergötzt, öfter abgestoßen hat, ziemlich gleichgültig aus der Hand, weil es für
uns nicht mehr die Wahrheit enthält. Wir wissen, daß das Weib so nicht
ist oder doch nur unter besonderen Umständen so ist, und wenn es so wäre,
würden wir uns nie so lustig darein finden. Unsere Lebensanschauung ist
keine frivole mehr, aber wir begreifen, wie sie damals so werden konnte. , . .
Eine Dichtung dieser Art kann uns nicht mehr befriedigen; im Gegentheil,
wir haben uns mit aller Anstrengung auf den historischen Standpunkt ihrer
Entstehung zu versetzen, um den Dichter nicht härter zu beurtheilen, als er
zu beurtheilen ist, und ihm insbesondere das Behagen nicht zu verargen,
das. aus jeder Zeile dieser Dichtung spricht. In der That, wenn irgend
etwas, so hat Voltaire die Pucelle "eov g,ovre" gearbeitet. Ein jedes Zeit¬
alter freut sich seiner neuerrungenen Weisheit, mag es eine wahre oder falsche
sein, besonders wenn es eine heitere Weisheit ist; in Voltaire's Pucelle,
können wir sagen, genoß das achtzehnte Jahrhundert sich selbst in seiner
Frivolität, die an sich zwar häßlich, aber von seinen übrigen bessern Eigen¬
schaften leider nicht zu trennen ist.

Solche Urtheile sind charakteristisch für den hohen und unbeengten
Standort, welchen der Kritiker einnimmt. Ihm ist auch das persönlich
Frivole im Verhalten Voltaire's zur Kirche ein interessantes Problem viel-
mehr, denn ein Gegenstand scheltenden Eifers. Bekanntlich nahm Voltaire
keinen Anstand, dieselben Gebräuche seiner Kirche mitzumachen, die ihm Gegen¬
stand der schneidendsten Spöttereien waren. Sein Wahlspruch war, wie er
einmal an d'Alembert schrieb: "Ich bin ein warmer Freund der Wahrheit, aber
gar kein Freund vom Martyrthum"; und dies war auch vornehmlich der
Grund, warum er seine zahllosen Streitschriften meist unter fremden Namen


wird mit warmem Antheil in das rechte Licht gerückt; über der ganzen
Darstellung aber schwebt eine glückliche Laune, die jede Spur von Vorein¬
genommenheit entfernt hält und auch dem Leser die behaglichste Stimmung
mittheilt.

Recht bezeichnend ist das Urtheil, mit welchem sich Strauß bei der einst
vielbewunderten und dann vielgeschmähten „Pucelle" Voltaire's bescheidet. Die
Dichtung, sagt er, ist aus dem frivolen Sinn der höheren Gesellschaftskreise
jener Zeit heraufgeschrieben, darum war sie der Zeit auch nach dem Sinne.
Wie sie nach und nach entstand und lange Jahre nur in Abschriften um«
ging, war, einer solchen habhaft zu werden, das Ziel eifriger Bewerbung
von Fürsten und Prinzessinnen, das Gedicht der feinste Leckerbissen, seine
Kenntniß gleichsam das geistige Erkennungszeichen der guten und besten Ge¬
sellschaft, Auch hatte das Gedicht für jene Zeit nur allzuviele Wahrheit;
die Frauen der höheren Kreise waren zum guten Theil so, wie sie hier ge¬
schildert wurden. Wir heutigen legen das Gedicht, nachdem es uns zuweilen
ergötzt, öfter abgestoßen hat, ziemlich gleichgültig aus der Hand, weil es für
uns nicht mehr die Wahrheit enthält. Wir wissen, daß das Weib so nicht
ist oder doch nur unter besonderen Umständen so ist, und wenn es so wäre,
würden wir uns nie so lustig darein finden. Unsere Lebensanschauung ist
keine frivole mehr, aber wir begreifen, wie sie damals so werden konnte. , . .
Eine Dichtung dieser Art kann uns nicht mehr befriedigen; im Gegentheil,
wir haben uns mit aller Anstrengung auf den historischen Standpunkt ihrer
Entstehung zu versetzen, um den Dichter nicht härter zu beurtheilen, als er
zu beurtheilen ist, und ihm insbesondere das Behagen nicht zu verargen,
das. aus jeder Zeile dieser Dichtung spricht. In der That, wenn irgend
etwas, so hat Voltaire die Pucelle „eov g,ovre" gearbeitet. Ein jedes Zeit¬
alter freut sich seiner neuerrungenen Weisheit, mag es eine wahre oder falsche
sein, besonders wenn es eine heitere Weisheit ist; in Voltaire's Pucelle,
können wir sagen, genoß das achtzehnte Jahrhundert sich selbst in seiner
Frivolität, die an sich zwar häßlich, aber von seinen übrigen bessern Eigen¬
schaften leider nicht zu trennen ist.

Solche Urtheile sind charakteristisch für den hohen und unbeengten
Standort, welchen der Kritiker einnimmt. Ihm ist auch das persönlich
Frivole im Verhalten Voltaire's zur Kirche ein interessantes Problem viel-
mehr, denn ein Gegenstand scheltenden Eifers. Bekanntlich nahm Voltaire
keinen Anstand, dieselben Gebräuche seiner Kirche mitzumachen, die ihm Gegen¬
stand der schneidendsten Spöttereien waren. Sein Wahlspruch war, wie er
einmal an d'Alembert schrieb: „Ich bin ein warmer Freund der Wahrheit, aber
gar kein Freund vom Martyrthum"; und dies war auch vornehmlich der
Grund, warum er seine zahllosen Streitschriften meist unter fremden Namen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/159>, abgerufen am 17.06.2024.