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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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fahren glaubte, wie sich auch bestätigt hat, da der 19. Februar (3. MSrz)
ruhig vorübergegangen ist, so hatte das Ministerium des Innern doch für
nothwendig erachtet, den die Bauernemancipation betreffenden kaiserlichen
Ukas vom 19. Februar 1863 durch Abdruck in so vielen Exemplaren zu ver-
vielfältigen, daß in jedem Gouvernement an die Bauern mindestens 80.000
Stück vertheilt werden konnten. Zugleich wurde angeordnet, daß der Ukas
den bäuerlichen Gemeinden vorgelesen und erklärt werden solle. Man fürchtet
von dieser Seite nichts weiter, doch will man bemerkt haben, daß das revo¬
lutionäre Gift in der Jugend und namentlich in die Militärlehranstalten
eingedrungen ist, welche der Armee den größten Theil der Officiere liefern.
Man besorgt, daß diese Wahrnehmung höchst ungünstig 'auf den mißtrauischen
Sinn des Monarchen einwirken und demselben neue Nahrung geben würde. --
Die polizeilichen Nachforschungen nach den Mitgliedern der geheimen Gesell¬
schaften und der Verschwörung werden deshalb mit ungeschwächtem Eifer
fortgesetzt. Aus Odessa ging die Nachricht ein, daß die Polizei unter den
dortigen Studenten infolge mehrfach abgehaltener Revisionen ein Com-
plott gegen das Leben des Kaisers entdeckt habe. Als Anstifter wurden die
Studenten Papisch und Jeremieschtscheff zur Haft gebracht. Ebenso sind im
Gouvernement Cherson Umtriebe entdeckt und Verhaftungen vorgenommen
worden. Nach aus Kletnrußland eingegangenen Nachrichten und namentlich
aus den Gouvernements Pultawa, Tschernigoff und Jekaterinoslaff sind auch
dort weite Verzweigungen der socialen Verschwörung aufgespürt worden und
Verhaftungen erfolgt. Unter den Kleinrussen gibt es noch eine ziemlich starke
Partei, in der die Traditionen des freien Kosakenthums sich lebendig erhal¬
ten haben, und die an der Hoffnung auf Befreiung von der russischen Herr¬
schaft unerschütterlich festhält.

Im Ganzen scheint diese Nihilistenverschwörung viel Aehnlichkeit mit den
socialistischen Bestrebungen in Deutschland zu haben, es wird in den Be¬
richten aus Rußland auch mehrfach von russischen Socialisten gesprochen.
Zum Schutze und zur Aufrechterhaltung der Ordnung gegenüber diesen revo¬
lutionären Umtrieben war vor einiger Zeit von russischer conservativer Seite
die Genehmigung nachgesucht worden, Freicorps bilden und unterhalten zu
dürfen. Die Regierung hat jedoch die Petenten bedeutet, daß sie ausreichende
Mittel besitze, jeder Bewegung, gleichviel von welcher Seite sie komme, kräftig
begegnen zu können.

Wäyrend es hier die Regierung mit einem versteckten Feinde zu thun
hat, gegen den sie sich nur der Polizei oder der Gerichte bedienen kann,
ist sie andererseits in der Lage, sich gegen offenen Aufruhr vertheidigen zu
müssen. Tx-r Aufstand in der kirgisischen Steppe, welcher bereits in der ersten
Hälfte des vorigen Jahres begann, war ungeachtet widersprechender Mttthei-


fahren glaubte, wie sich auch bestätigt hat, da der 19. Februar (3. MSrz)
ruhig vorübergegangen ist, so hatte das Ministerium des Innern doch für
nothwendig erachtet, den die Bauernemancipation betreffenden kaiserlichen
Ukas vom 19. Februar 1863 durch Abdruck in so vielen Exemplaren zu ver-
vielfältigen, daß in jedem Gouvernement an die Bauern mindestens 80.000
Stück vertheilt werden konnten. Zugleich wurde angeordnet, daß der Ukas
den bäuerlichen Gemeinden vorgelesen und erklärt werden solle. Man fürchtet
von dieser Seite nichts weiter, doch will man bemerkt haben, daß das revo¬
lutionäre Gift in der Jugend und namentlich in die Militärlehranstalten
eingedrungen ist, welche der Armee den größten Theil der Officiere liefern.
Man besorgt, daß diese Wahrnehmung höchst ungünstig 'auf den mißtrauischen
Sinn des Monarchen einwirken und demselben neue Nahrung geben würde. —
Die polizeilichen Nachforschungen nach den Mitgliedern der geheimen Gesell¬
schaften und der Verschwörung werden deshalb mit ungeschwächtem Eifer
fortgesetzt. Aus Odessa ging die Nachricht ein, daß die Polizei unter den
dortigen Studenten infolge mehrfach abgehaltener Revisionen ein Com-
plott gegen das Leben des Kaisers entdeckt habe. Als Anstifter wurden die
Studenten Papisch und Jeremieschtscheff zur Haft gebracht. Ebenso sind im
Gouvernement Cherson Umtriebe entdeckt und Verhaftungen vorgenommen
worden. Nach aus Kletnrußland eingegangenen Nachrichten und namentlich
aus den Gouvernements Pultawa, Tschernigoff und Jekaterinoslaff sind auch
dort weite Verzweigungen der socialen Verschwörung aufgespürt worden und
Verhaftungen erfolgt. Unter den Kleinrussen gibt es noch eine ziemlich starke
Partei, in der die Traditionen des freien Kosakenthums sich lebendig erhal¬
ten haben, und die an der Hoffnung auf Befreiung von der russischen Herr¬
schaft unerschütterlich festhält.

Im Ganzen scheint diese Nihilistenverschwörung viel Aehnlichkeit mit den
socialistischen Bestrebungen in Deutschland zu haben, es wird in den Be¬
richten aus Rußland auch mehrfach von russischen Socialisten gesprochen.
Zum Schutze und zur Aufrechterhaltung der Ordnung gegenüber diesen revo¬
lutionären Umtrieben war vor einiger Zeit von russischer conservativer Seite
die Genehmigung nachgesucht worden, Freicorps bilden und unterhalten zu
dürfen. Die Regierung hat jedoch die Petenten bedeutet, daß sie ausreichende
Mittel besitze, jeder Bewegung, gleichviel von welcher Seite sie komme, kräftig
begegnen zu können.

Wäyrend es hier die Regierung mit einem versteckten Feinde zu thun
hat, gegen den sie sich nur der Polizei oder der Gerichte bedienen kann,
ist sie andererseits in der Lage, sich gegen offenen Aufruhr vertheidigen zu
müssen. Tx-r Aufstand in der kirgisischen Steppe, welcher bereits in der ersten
Hälfte des vorigen Jahres begann, war ungeachtet widersprechender Mttthei-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/28>, abgerufen am 26.05.2024.