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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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lungen gegen Ende März dieses Jahres noch nicht gänzlich beseitigt. Der¬
selbe begann damit, daß die 168 Mann zählende Besatzung von Uralsk
einem Ueberfall unterlag und eine Militärabtheilung unter Baron Stempel
von den Kirgisen eingeschlossen wurde. Auch der Chef des mangischlakischen
Bezirks. Oberst Rukin, der sich mit 38 Kosaken in der Gegend des Alexander-
sorts aufhielt, wurde am 24. März d. I. von einer Horde Adajewzen-
Kirgisen gefangen genommen, und diese belagerten auch das von Fußkosaken
vertheidigte Alexanderfort selbst fünf Tage, bis auf Telegramme Ersatztruppen
mit Kanonen ankamen, vor denen die Belagerer zurückwichen. Der Kara-
wanenverkehr zwischen Samara und Syr-Darja (in Turan) war in Folge
des Aufruhrs eingestellt worden und die auf der Reise nach Taschkend be¬
griffene Familie des Generaladjutanten von Kaufmann mußte den weiten
Umweg durch Sibirien über Semipalitiesk einschlagen.

Unordnungen und Revolten sind in den Kirgisensteppen von Zeit zu
Zeit vereinzelt vorgekommen, bald in der innern, bald in der kleineren, bald
in der mittleren Orta (Horde) der Kirgisen (Kirghiz-Kaizaken). Gegenwärtig
finden sie namentlich in der kleinen Orta statt, die sich bis in die Nähe von
Orenburg ausdehnt. Die Kirgisen waren bisher politisch in zwei Stämme
oder Provinzen getheilt, die sibirische oder orenburgische. Sie wurden von
ihren Häuptlingen oder Sultans beherrscht, die nach separaten, von den russi¬
schen unabhängigen Gesetzen regierten. Bei jedem Sultan befand sich aber
ein Delegirter der russischen Regierung, der darüber zu wachen hatte, daß
diese Sultanherrschaft nicht ausarte und sich nur innerhalb der herkömmlichen
Freiheiten bewegte. Nachdem Rußland nun Turkestan in seine Gewalt ge¬
bracht hatte, mußte es der Regierung wünschenswert!) erscheinen, dem Land¬
strich zwischen seiner neuen Provinz und dem alten Reiche eine Organisation
zu geben, die mehr in Uebereinstimmung stände mit den Institutionen des
übrigen Rußlands. Man hob daher die frühere Einteilung des Kir¬
gisenlandes auf, theilte dasselbe in vier Provinzen und wollte der Sultan¬
herrschaft ein Ende machen. In diese vier Distrikte von Akmolinsk, Semi-
paladinski, Turgaja und Uralsk wurden nun die üblichen russischen Beamten
eingesetzt. Ein Theil der Kirgisen nahm diese Neuerung mit Unwillen auf,
vertrieb die russischen Beamten und befand sich in vollem Aufruhr, ein an¬
derer nahm die neuen Einrichtungen an. Da die direkte Verbindung mit
Turkestan durch die kirgisischen Horden geht, so hätte freilich die nöthige mi¬
litärische Besatzung die neuen Einrichtungen schützen müssen, wenn einmal
Gewalt angewendet werden sollte, oder dieselben konnten nach und nach und
mit möglichster Schonung der Sitten des Volks eingeführt werden. Dies
geschah nicht und so kam es, daß der russische Handel nach Centralasien in
Folge Einstellung des Karawanenverkehrs bedeutende Verluste erlitt. Dem


lungen gegen Ende März dieses Jahres noch nicht gänzlich beseitigt. Der¬
selbe begann damit, daß die 168 Mann zählende Besatzung von Uralsk
einem Ueberfall unterlag und eine Militärabtheilung unter Baron Stempel
von den Kirgisen eingeschlossen wurde. Auch der Chef des mangischlakischen
Bezirks. Oberst Rukin, der sich mit 38 Kosaken in der Gegend des Alexander-
sorts aufhielt, wurde am 24. März d. I. von einer Horde Adajewzen-
Kirgisen gefangen genommen, und diese belagerten auch das von Fußkosaken
vertheidigte Alexanderfort selbst fünf Tage, bis auf Telegramme Ersatztruppen
mit Kanonen ankamen, vor denen die Belagerer zurückwichen. Der Kara-
wanenverkehr zwischen Samara und Syr-Darja (in Turan) war in Folge
des Aufruhrs eingestellt worden und die auf der Reise nach Taschkend be¬
griffene Familie des Generaladjutanten von Kaufmann mußte den weiten
Umweg durch Sibirien über Semipalitiesk einschlagen.

Unordnungen und Revolten sind in den Kirgisensteppen von Zeit zu
Zeit vereinzelt vorgekommen, bald in der innern, bald in der kleineren, bald
in der mittleren Orta (Horde) der Kirgisen (Kirghiz-Kaizaken). Gegenwärtig
finden sie namentlich in der kleinen Orta statt, die sich bis in die Nähe von
Orenburg ausdehnt. Die Kirgisen waren bisher politisch in zwei Stämme
oder Provinzen getheilt, die sibirische oder orenburgische. Sie wurden von
ihren Häuptlingen oder Sultans beherrscht, die nach separaten, von den russi¬
schen unabhängigen Gesetzen regierten. Bei jedem Sultan befand sich aber
ein Delegirter der russischen Regierung, der darüber zu wachen hatte, daß
diese Sultanherrschaft nicht ausarte und sich nur innerhalb der herkömmlichen
Freiheiten bewegte. Nachdem Rußland nun Turkestan in seine Gewalt ge¬
bracht hatte, mußte es der Regierung wünschenswert!) erscheinen, dem Land¬
strich zwischen seiner neuen Provinz und dem alten Reiche eine Organisation
zu geben, die mehr in Uebereinstimmung stände mit den Institutionen des
übrigen Rußlands. Man hob daher die frühere Einteilung des Kir¬
gisenlandes auf, theilte dasselbe in vier Provinzen und wollte der Sultan¬
herrschaft ein Ende machen. In diese vier Distrikte von Akmolinsk, Semi-
paladinski, Turgaja und Uralsk wurden nun die üblichen russischen Beamten
eingesetzt. Ein Theil der Kirgisen nahm diese Neuerung mit Unwillen auf,
vertrieb die russischen Beamten und befand sich in vollem Aufruhr, ein an¬
derer nahm die neuen Einrichtungen an. Da die direkte Verbindung mit
Turkestan durch die kirgisischen Horden geht, so hätte freilich die nöthige mi¬
litärische Besatzung die neuen Einrichtungen schützen müssen, wenn einmal
Gewalt angewendet werden sollte, oder dieselben konnten nach und nach und
mit möglichster Schonung der Sitten des Volks eingeführt werden. Dies
geschah nicht und so kam es, daß der russische Handel nach Centralasien in
Folge Einstellung des Karawanenverkehrs bedeutende Verluste erlitt. Dem


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[0029] lungen gegen Ende März dieses Jahres noch nicht gänzlich beseitigt. Der¬ selbe begann damit, daß die 168 Mann zählende Besatzung von Uralsk einem Ueberfall unterlag und eine Militärabtheilung unter Baron Stempel von den Kirgisen eingeschlossen wurde. Auch der Chef des mangischlakischen Bezirks. Oberst Rukin, der sich mit 38 Kosaken in der Gegend des Alexander- sorts aufhielt, wurde am 24. März d. I. von einer Horde Adajewzen- Kirgisen gefangen genommen, und diese belagerten auch das von Fußkosaken vertheidigte Alexanderfort selbst fünf Tage, bis auf Telegramme Ersatztruppen mit Kanonen ankamen, vor denen die Belagerer zurückwichen. Der Kara- wanenverkehr zwischen Samara und Syr-Darja (in Turan) war in Folge des Aufruhrs eingestellt worden und die auf der Reise nach Taschkend be¬ griffene Familie des Generaladjutanten von Kaufmann mußte den weiten Umweg durch Sibirien über Semipalitiesk einschlagen. Unordnungen und Revolten sind in den Kirgisensteppen von Zeit zu Zeit vereinzelt vorgekommen, bald in der innern, bald in der kleineren, bald in der mittleren Orta (Horde) der Kirgisen (Kirghiz-Kaizaken). Gegenwärtig finden sie namentlich in der kleinen Orta statt, die sich bis in die Nähe von Orenburg ausdehnt. Die Kirgisen waren bisher politisch in zwei Stämme oder Provinzen getheilt, die sibirische oder orenburgische. Sie wurden von ihren Häuptlingen oder Sultans beherrscht, die nach separaten, von den russi¬ schen unabhängigen Gesetzen regierten. Bei jedem Sultan befand sich aber ein Delegirter der russischen Regierung, der darüber zu wachen hatte, daß diese Sultanherrschaft nicht ausarte und sich nur innerhalb der herkömmlichen Freiheiten bewegte. Nachdem Rußland nun Turkestan in seine Gewalt ge¬ bracht hatte, mußte es der Regierung wünschenswert!) erscheinen, dem Land¬ strich zwischen seiner neuen Provinz und dem alten Reiche eine Organisation zu geben, die mehr in Uebereinstimmung stände mit den Institutionen des übrigen Rußlands. Man hob daher die frühere Einteilung des Kir¬ gisenlandes auf, theilte dasselbe in vier Provinzen und wollte der Sultan¬ herrschaft ein Ende machen. In diese vier Distrikte von Akmolinsk, Semi- paladinski, Turgaja und Uralsk wurden nun die üblichen russischen Beamten eingesetzt. Ein Theil der Kirgisen nahm diese Neuerung mit Unwillen auf, vertrieb die russischen Beamten und befand sich in vollem Aufruhr, ein an¬ derer nahm die neuen Einrichtungen an. Da die direkte Verbindung mit Turkestan durch die kirgisischen Horden geht, so hätte freilich die nöthige mi¬ litärische Besatzung die neuen Einrichtungen schützen müssen, wenn einmal Gewalt angewendet werden sollte, oder dieselben konnten nach und nach und mit möglichster Schonung der Sitten des Volks eingeführt werden. Dies geschah nicht und so kam es, daß der russische Handel nach Centralasien in Folge Einstellung des Karawanenverkehrs bedeutende Verluste erlitt. Dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/29>, abgerufen am 26.05.2024.