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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Wie Wehrkraft Frankreichs im Vergleich mit der deutschen.
H.. Das stehende Heer.
1. Wehrpflicht.

Wie in fast allen europäischen Ländern, so riefen die Siege Preußens
vom Jahre 1866 auch in Frankreich Zweifel an der Vortrefflichkett der
bisherigen Heeresorganisation wach. Die Regierung beschränkte sich nicht
auf die Einführung eines verbesserten Jnfanteriegewehrs, womit sie manchem
kurzsichtigen Thoren genug gethan hätte, sondern trat mit dem Vorschlage
der augemeinen Wehrpflicht hervor. Aber in dem Staate, dessen Bürgern
der Sinn für Selbstverwaltung gänzlich erstorben zu sein scheint,.will selbst
der vierte Stand nicht auf die Hoffnung sich frei zu loofen oder zu kaufen ver-
zichten. Dem vereinten Widerstande der Bauern und der Bourgeoisie gab
die Regierung nach und begnügte sich mit dem Gesetze vom 1. Februar 1868,
welches die Grundlage der heutigen Milttärverfassung Frankreichs bildet.

Nach wie vor kooft alljährlich in jedem Departement die waffenfähige
Mannschaft. Die bons numeros sind von jedem Dienst im stehenden Heere
befreit, aber auch der vom Glück nicht Begünstigte kann sich für 2500 Francs
vertreten lassen. Diese Vertretung ist durch das eben erwähnte Gesetz ge¬
regelt worden. Bis zum Erlaß desselben galt die Verordnung von 1855,
wonach jeder vor der Loosung zu erklären hatte, ob er sich loskaufen wolle
oder nicht: im ersteren Falle zahlte er die 2500 Francs in die sogenannte
Exonerationskasse und war einer weiteren Verpflichtung überhoben; die Re¬
gierung engagirte einen Stellvertreter aus der Zahl derer, welche sich frei
geloost hatten, aber doch kriegslustig waren (öNM^s). oder derer, welche
ihrer gesetzlichen Dienstpflicht bereits genügt hatten (reuMMs). Auf diesem
Wege gewann das Heer eine stattliche Menge von Berufssoldaten, andererseits
drängten sich auch manche ein, denen das Geldgeschäft in erster Linie stand:
die renAÄgss erhielten nämlich außer der Rente nach beendigter Dienstzeit
eine Soldzulage. Sie wurden aus Soldaten Speculanten. Da ferner die
Zahl der renMZW (jährlich etwa 10,000) die der MA^hö überwog, so wurde
das zur wirklichen Einstellung gelangende Recrutencontingent immer kleiner


Grenzboten Ul. 1870. 43
Wie Wehrkraft Frankreichs im Vergleich mit der deutschen.
H.. Das stehende Heer.
1. Wehrpflicht.

Wie in fast allen europäischen Ländern, so riefen die Siege Preußens
vom Jahre 1866 auch in Frankreich Zweifel an der Vortrefflichkett der
bisherigen Heeresorganisation wach. Die Regierung beschränkte sich nicht
auf die Einführung eines verbesserten Jnfanteriegewehrs, womit sie manchem
kurzsichtigen Thoren genug gethan hätte, sondern trat mit dem Vorschlage
der augemeinen Wehrpflicht hervor. Aber in dem Staate, dessen Bürgern
der Sinn für Selbstverwaltung gänzlich erstorben zu sein scheint,.will selbst
der vierte Stand nicht auf die Hoffnung sich frei zu loofen oder zu kaufen ver-
zichten. Dem vereinten Widerstande der Bauern und der Bourgeoisie gab
die Regierung nach und begnügte sich mit dem Gesetze vom 1. Februar 1868,
welches die Grundlage der heutigen Milttärverfassung Frankreichs bildet.

Nach wie vor kooft alljährlich in jedem Departement die waffenfähige
Mannschaft. Die bons numeros sind von jedem Dienst im stehenden Heere
befreit, aber auch der vom Glück nicht Begünstigte kann sich für 2500 Francs
vertreten lassen. Diese Vertretung ist durch das eben erwähnte Gesetz ge¬
regelt worden. Bis zum Erlaß desselben galt die Verordnung von 1855,
wonach jeder vor der Loosung zu erklären hatte, ob er sich loskaufen wolle
oder nicht: im ersteren Falle zahlte er die 2500 Francs in die sogenannte
Exonerationskasse und war einer weiteren Verpflichtung überhoben; die Re¬
gierung engagirte einen Stellvertreter aus der Zahl derer, welche sich frei
geloost hatten, aber doch kriegslustig waren (öNM^s). oder derer, welche
ihrer gesetzlichen Dienstpflicht bereits genügt hatten (reuMMs). Auf diesem
Wege gewann das Heer eine stattliche Menge von Berufssoldaten, andererseits
drängten sich auch manche ein, denen das Geldgeschäft in erster Linie stand:
die renAÄgss erhielten nämlich außer der Rente nach beendigter Dienstzeit
eine Soldzulage. Sie wurden aus Soldaten Speculanten. Da ferner die
Zahl der renMZW (jährlich etwa 10,000) die der MA^hö überwog, so wurde
das zur wirklichen Einstellung gelangende Recrutencontingent immer kleiner


Grenzboten Ul. 1870. 43
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[0337] Wie Wehrkraft Frankreichs im Vergleich mit der deutschen. H.. Das stehende Heer. 1. Wehrpflicht. Wie in fast allen europäischen Ländern, so riefen die Siege Preußens vom Jahre 1866 auch in Frankreich Zweifel an der Vortrefflichkett der bisherigen Heeresorganisation wach. Die Regierung beschränkte sich nicht auf die Einführung eines verbesserten Jnfanteriegewehrs, womit sie manchem kurzsichtigen Thoren genug gethan hätte, sondern trat mit dem Vorschlage der augemeinen Wehrpflicht hervor. Aber in dem Staate, dessen Bürgern der Sinn für Selbstverwaltung gänzlich erstorben zu sein scheint,.will selbst der vierte Stand nicht auf die Hoffnung sich frei zu loofen oder zu kaufen ver- zichten. Dem vereinten Widerstande der Bauern und der Bourgeoisie gab die Regierung nach und begnügte sich mit dem Gesetze vom 1. Februar 1868, welches die Grundlage der heutigen Milttärverfassung Frankreichs bildet. Nach wie vor kooft alljährlich in jedem Departement die waffenfähige Mannschaft. Die bons numeros sind von jedem Dienst im stehenden Heere befreit, aber auch der vom Glück nicht Begünstigte kann sich für 2500 Francs vertreten lassen. Diese Vertretung ist durch das eben erwähnte Gesetz ge¬ regelt worden. Bis zum Erlaß desselben galt die Verordnung von 1855, wonach jeder vor der Loosung zu erklären hatte, ob er sich loskaufen wolle oder nicht: im ersteren Falle zahlte er die 2500 Francs in die sogenannte Exonerationskasse und war einer weiteren Verpflichtung überhoben; die Re¬ gierung engagirte einen Stellvertreter aus der Zahl derer, welche sich frei geloost hatten, aber doch kriegslustig waren (öNM^s). oder derer, welche ihrer gesetzlichen Dienstpflicht bereits genügt hatten (reuMMs). Auf diesem Wege gewann das Heer eine stattliche Menge von Berufssoldaten, andererseits drängten sich auch manche ein, denen das Geldgeschäft in erster Linie stand: die renAÄgss erhielten nämlich außer der Rente nach beendigter Dienstzeit eine Soldzulage. Sie wurden aus Soldaten Speculanten. Da ferner die Zahl der renMZW (jährlich etwa 10,000) die der MA^hö überwog, so wurde das zur wirklichen Einstellung gelangende Recrutencontingent immer kleiner Grenzboten Ul. 1870. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/337>, abgerufen am 27.05.2024.