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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Gebet für den Monarchen zu heilig, als daß er sich je dazu verstehen sollte,
es als einen für ihn rein äußerlichen Act in Formen mitzumachen, die ihm
unverständlich sind und mit seinem religiösen Bewußtsein nicht im Einklange
stehen ze."

Ebenso entschieden als würdevoll soll auch die Antwort der esthnischen
Ritterschaft ausgefallen sein. Der Gouverneur Gallen ist neuerdings seines
Postens enthoben worden; wir glauben nicht wegen seiner Thätigkeit im
russischen Interesse, sondern ungeachtet derselben wegen Intriguen gegen
den vom Kaiser hochgeschätzten General-Gouverneur von Nordwestrußland
Potovosf. dem die Moskaner Zeitung mit Hilfe Gattin's Beeinträchtigung
der russischen Interessen und Begünstigung der Polen vorgeworfen hatte.

In Finnland sind die Verhältnisse einigermaßen andere. Die Bevölke-
rung von Finnland beträgt auf 6844 Quadratmeilen 1,880,000 Einwohner
und besteht bis auf 350.000 Russen, Schweden und Lappen, aus Finnen,
welche ihre eigene Sprache haben und sämmtlich der lutherischen Kirche an¬
gehören. Der Nothstand in dieser Provinz ist so groß, daß in den letzten
zwei Jahren nach amtlichen Angaben an 300,000 Menschen am Hungertyphus
gestorben oder sonst den Folgen der Entbehrung erlegen sind. Einem Comite',
welches mit Anordnungen von Maßregeln zur Abwehr des Nothstandes be¬
traut war, ist vom Kaiser eine Belobigung für die Umsicht zu Theil gewor-
den, mit welcher es die schwierige Aufgabe gelöst hat, obwohl kein Russe
in demselben war, während dies anderwärts russischen Comite's nicht zu
Theil geworden ist. Hier sind überhaupt die Russificirungs - Versuche nicht
eben glücklich ausgefallen.

Seit einiger Zeit versuchte man, in den Schulen Aenderungen zu Gunsten
der russischen Sprache und Confession einzuführen. Die Lehrstunden für die
russische Sprache sollten verdoppelt, für Geschichte, Geographie, Mathematik
und Naturwissenschaften an den Gymnasien und Realschulen sollten aus-
schließlich russische Lehrer angestellt, die Universität Helsingfors unter ein
russisches Curatortum gestellt, die gelehrten Erfordernisse behufs Erlangung
eines akademischen Grades russisch abgeleistet werden. Selbst zur Feier der
russischen Kirchenfesttage wollte man die Finnen zwingen. Aber sämmtliche
Stände haben Deputationen an den Kaiser geschickt, um gegen die Versuche
der Russtficirung zu protestiren. In Folge dessen wurde im Auftrage des
Kaisers ein besonderer Commissarius zur Untersuchung abgeschickt und aus
dessen Bericht sind die Anordnungen des Gouvernements durchweg aufge¬
hoben. Jetzt ist noch eine besondere Petition von finnländischen Städten um
Aufhebung der Präventivcensur durch eine Deputation dem Kaiser vorgelegt
worden. Die russischen Zeitungen greifen Finnland wegen seiner Ausnahme¬
stellung fortwährend an, ja sie wagen es, die Selbständigkeit der finnländi-


Gebet für den Monarchen zu heilig, als daß er sich je dazu verstehen sollte,
es als einen für ihn rein äußerlichen Act in Formen mitzumachen, die ihm
unverständlich sind und mit seinem religiösen Bewußtsein nicht im Einklange
stehen ze."

Ebenso entschieden als würdevoll soll auch die Antwort der esthnischen
Ritterschaft ausgefallen sein. Der Gouverneur Gallen ist neuerdings seines
Postens enthoben worden; wir glauben nicht wegen seiner Thätigkeit im
russischen Interesse, sondern ungeachtet derselben wegen Intriguen gegen
den vom Kaiser hochgeschätzten General-Gouverneur von Nordwestrußland
Potovosf. dem die Moskaner Zeitung mit Hilfe Gattin's Beeinträchtigung
der russischen Interessen und Begünstigung der Polen vorgeworfen hatte.

In Finnland sind die Verhältnisse einigermaßen andere. Die Bevölke-
rung von Finnland beträgt auf 6844 Quadratmeilen 1,880,000 Einwohner
und besteht bis auf 350.000 Russen, Schweden und Lappen, aus Finnen,
welche ihre eigene Sprache haben und sämmtlich der lutherischen Kirche an¬
gehören. Der Nothstand in dieser Provinz ist so groß, daß in den letzten
zwei Jahren nach amtlichen Angaben an 300,000 Menschen am Hungertyphus
gestorben oder sonst den Folgen der Entbehrung erlegen sind. Einem Comite',
welches mit Anordnungen von Maßregeln zur Abwehr des Nothstandes be¬
traut war, ist vom Kaiser eine Belobigung für die Umsicht zu Theil gewor-
den, mit welcher es die schwierige Aufgabe gelöst hat, obwohl kein Russe
in demselben war, während dies anderwärts russischen Comite's nicht zu
Theil geworden ist. Hier sind überhaupt die Russificirungs - Versuche nicht
eben glücklich ausgefallen.

Seit einiger Zeit versuchte man, in den Schulen Aenderungen zu Gunsten
der russischen Sprache und Confession einzuführen. Die Lehrstunden für die
russische Sprache sollten verdoppelt, für Geschichte, Geographie, Mathematik
und Naturwissenschaften an den Gymnasien und Realschulen sollten aus-
schließlich russische Lehrer angestellt, die Universität Helsingfors unter ein
russisches Curatortum gestellt, die gelehrten Erfordernisse behufs Erlangung
eines akademischen Grades russisch abgeleistet werden. Selbst zur Feier der
russischen Kirchenfesttage wollte man die Finnen zwingen. Aber sämmtliche
Stände haben Deputationen an den Kaiser geschickt, um gegen die Versuche
der Russtficirung zu protestiren. In Folge dessen wurde im Auftrage des
Kaisers ein besonderer Commissarius zur Untersuchung abgeschickt und aus
dessen Bericht sind die Anordnungen des Gouvernements durchweg aufge¬
hoben. Jetzt ist noch eine besondere Petition von finnländischen Städten um
Aufhebung der Präventivcensur durch eine Deputation dem Kaiser vorgelegt
worden. Die russischen Zeitungen greifen Finnland wegen seiner Ausnahme¬
stellung fortwährend an, ja sie wagen es, die Selbständigkeit der finnländi-


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[0034] Gebet für den Monarchen zu heilig, als daß er sich je dazu verstehen sollte, es als einen für ihn rein äußerlichen Act in Formen mitzumachen, die ihm unverständlich sind und mit seinem religiösen Bewußtsein nicht im Einklange stehen ze." Ebenso entschieden als würdevoll soll auch die Antwort der esthnischen Ritterschaft ausgefallen sein. Der Gouverneur Gallen ist neuerdings seines Postens enthoben worden; wir glauben nicht wegen seiner Thätigkeit im russischen Interesse, sondern ungeachtet derselben wegen Intriguen gegen den vom Kaiser hochgeschätzten General-Gouverneur von Nordwestrußland Potovosf. dem die Moskaner Zeitung mit Hilfe Gattin's Beeinträchtigung der russischen Interessen und Begünstigung der Polen vorgeworfen hatte. In Finnland sind die Verhältnisse einigermaßen andere. Die Bevölke- rung von Finnland beträgt auf 6844 Quadratmeilen 1,880,000 Einwohner und besteht bis auf 350.000 Russen, Schweden und Lappen, aus Finnen, welche ihre eigene Sprache haben und sämmtlich der lutherischen Kirche an¬ gehören. Der Nothstand in dieser Provinz ist so groß, daß in den letzten zwei Jahren nach amtlichen Angaben an 300,000 Menschen am Hungertyphus gestorben oder sonst den Folgen der Entbehrung erlegen sind. Einem Comite', welches mit Anordnungen von Maßregeln zur Abwehr des Nothstandes be¬ traut war, ist vom Kaiser eine Belobigung für die Umsicht zu Theil gewor- den, mit welcher es die schwierige Aufgabe gelöst hat, obwohl kein Russe in demselben war, während dies anderwärts russischen Comite's nicht zu Theil geworden ist. Hier sind überhaupt die Russificirungs - Versuche nicht eben glücklich ausgefallen. Seit einiger Zeit versuchte man, in den Schulen Aenderungen zu Gunsten der russischen Sprache und Confession einzuführen. Die Lehrstunden für die russische Sprache sollten verdoppelt, für Geschichte, Geographie, Mathematik und Naturwissenschaften an den Gymnasien und Realschulen sollten aus- schließlich russische Lehrer angestellt, die Universität Helsingfors unter ein russisches Curatortum gestellt, die gelehrten Erfordernisse behufs Erlangung eines akademischen Grades russisch abgeleistet werden. Selbst zur Feier der russischen Kirchenfesttage wollte man die Finnen zwingen. Aber sämmtliche Stände haben Deputationen an den Kaiser geschickt, um gegen die Versuche der Russtficirung zu protestiren. In Folge dessen wurde im Auftrage des Kaisers ein besonderer Commissarius zur Untersuchung abgeschickt und aus dessen Bericht sind die Anordnungen des Gouvernements durchweg aufge¬ hoben. Jetzt ist noch eine besondere Petition von finnländischen Städten um Aufhebung der Präventivcensur durch eine Deputation dem Kaiser vorgelegt worden. Die russischen Zeitungen greifen Finnland wegen seiner Ausnahme¬ stellung fortwährend an, ja sie wagen es, die Selbständigkeit der finnländi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/34>, abgerufen am 19.05.2024.