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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Jahrhundert bestand. Im Mittelalter freilich, als das volkstümliche Fast-
nachtsspiel erstand, hatte die Geistlichkeit selbst diese Einmischung der gemei-
nen Farce in das geistliche Spiel nicht nur geduldet, sondern sogar pro-
tegirt. -- So dauerte denn der Streit über die Zulässigkeit dieser Passions¬
spiele bis zum Anfange unseres Jahrhunderts fort. Die Oberammergauer
hatten zwar für sich eine Erneuerung ihres Privilegiums durchgesetzt, aber
nochmals fand 1810 ein Verbot statt. In einem Ministerialerlaß aus
München wurde aufs Neue darauf aufmerksam gemacht, daß diese Auffüh¬
rungen längst als mit der Würde der Religion unvereinbar anerkannt wor¬
den seien, da -- wie es in dem Erlaß heißt -- "wenn auch ihre Details
nichts auffallend Unschickliches enthielten, schon die Idee, auf der sie be¬
ruhen, eine große Jndeeenz sei."

Von dieser Zeit ab datirt jedoch auch die durchgreifende Reform, welche
das Oberammergauer Spiel erfuhr, und der Text, welcher 1811 und wieder
1813 von dem Pater.Weiß aus dem benachbarten Kloster Ettal (einem
Wallfahrtsort) hergestellt wurde, blieb seitdem die Grundlage für das seit
1820 noch bis heute alle zehn Jahre abgehaltene Spiel. -

Ein sehr wesentliches Moment darf indeß hierbei nicht übersehen wer¬
den. Indem die Gemeinde von Oberammergau durch ihr zähes Festhalten
an dem Privilegium und durch ihre der fortschreitenden Bildung gemachten
Zugeständnisse die Protection der Regierung erlangt hatte, war auch die
Theilnahme der Städte und namentlich der Residenz diesem Spiel förder¬
lich. Die Darsteller und sonstigen Mitwirkenden bei dem Spiele (die Zahl
derselben beläuft sich im Ganzen auf etwa 300) werden allerdings in streng¬
sten Festhalten an dem Brauche nur aus der Gemeinde selbst gewählt. Aber
die Rathschläge, welche von München und von andern Städten aus in stei¬
gendem Interesse nach der Landgemeinde sich richteten, sind für Verbesse¬
rungen und besonders für die äußerliche künstlerische Form des Ganzen sehr
bedeutsam geworden. Wenn das Oberammergauer Spiel dadurch eine Ge¬
stalt erhalten hat, welche die außerordentliche Wirkung auf die Masse von
Zuschauern aller Art wohl erklärlich macht, so ist andererseits nicht in Ab¬
rede zu stellen, daß der volksthümliche Charakter dadurch Einbuße erleiden
mußte, denn wie jetzt das Oberammergauer Passionsspiel stattfindet, hat es
mit den geistlichen Spielen früherer Jahrhunderte nur wenig noch gemein.
Es ist im Grunde ein Produkt der neuern Zeit, wenn auch die Idee und
die Vorbilder dafür einer frühern Kulturepoche angehören. Von dieser An¬
schauung ausgehend wird man die Frage aufwerfen müssen, ob das zwie¬
spältige Wesen einer solchen Darstellung denn überhaupt einer eindringlichen
und einheitlichen Wirkung fähig ist?

Wir wollen hierauf Antwort geben, indem wir die ganze Darstellung


6*

Jahrhundert bestand. Im Mittelalter freilich, als das volkstümliche Fast-
nachtsspiel erstand, hatte die Geistlichkeit selbst diese Einmischung der gemei-
nen Farce in das geistliche Spiel nicht nur geduldet, sondern sogar pro-
tegirt. — So dauerte denn der Streit über die Zulässigkeit dieser Passions¬
spiele bis zum Anfange unseres Jahrhunderts fort. Die Oberammergauer
hatten zwar für sich eine Erneuerung ihres Privilegiums durchgesetzt, aber
nochmals fand 1810 ein Verbot statt. In einem Ministerialerlaß aus
München wurde aufs Neue darauf aufmerksam gemacht, daß diese Auffüh¬
rungen längst als mit der Würde der Religion unvereinbar anerkannt wor¬
den seien, da — wie es in dem Erlaß heißt — „wenn auch ihre Details
nichts auffallend Unschickliches enthielten, schon die Idee, auf der sie be¬
ruhen, eine große Jndeeenz sei."

Von dieser Zeit ab datirt jedoch auch die durchgreifende Reform, welche
das Oberammergauer Spiel erfuhr, und der Text, welcher 1811 und wieder
1813 von dem Pater.Weiß aus dem benachbarten Kloster Ettal (einem
Wallfahrtsort) hergestellt wurde, blieb seitdem die Grundlage für das seit
1820 noch bis heute alle zehn Jahre abgehaltene Spiel. -

Ein sehr wesentliches Moment darf indeß hierbei nicht übersehen wer¬
den. Indem die Gemeinde von Oberammergau durch ihr zähes Festhalten
an dem Privilegium und durch ihre der fortschreitenden Bildung gemachten
Zugeständnisse die Protection der Regierung erlangt hatte, war auch die
Theilnahme der Städte und namentlich der Residenz diesem Spiel förder¬
lich. Die Darsteller und sonstigen Mitwirkenden bei dem Spiele (die Zahl
derselben beläuft sich im Ganzen auf etwa 300) werden allerdings in streng¬
sten Festhalten an dem Brauche nur aus der Gemeinde selbst gewählt. Aber
die Rathschläge, welche von München und von andern Städten aus in stei¬
gendem Interesse nach der Landgemeinde sich richteten, sind für Verbesse¬
rungen und besonders für die äußerliche künstlerische Form des Ganzen sehr
bedeutsam geworden. Wenn das Oberammergauer Spiel dadurch eine Ge¬
stalt erhalten hat, welche die außerordentliche Wirkung auf die Masse von
Zuschauern aller Art wohl erklärlich macht, so ist andererseits nicht in Ab¬
rede zu stellen, daß der volksthümliche Charakter dadurch Einbuße erleiden
mußte, denn wie jetzt das Oberammergauer Passionsspiel stattfindet, hat es
mit den geistlichen Spielen früherer Jahrhunderte nur wenig noch gemein.
Es ist im Grunde ein Produkt der neuern Zeit, wenn auch die Idee und
die Vorbilder dafür einer frühern Kulturepoche angehören. Von dieser An¬
schauung ausgehend wird man die Frage aufwerfen müssen, ob das zwie¬
spältige Wesen einer solchen Darstellung denn überhaupt einer eindringlichen
und einheitlichen Wirkung fähig ist?

Wir wollen hierauf Antwort geben, indem wir die ganze Darstellung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/51>, abgerufen am 17.06.2024.