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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Ohr, wenn man den Darsteller des Christus so häufig von seinem "Vatter"
u. tgi. sprechen hört. Am schlimmsten klang der Dialekt bei dem wohlge¬
nährten Darsteller des Herodes, da bei diesem noch das harte tirolische den
Klang verhäßlichte und oft genug die Rede ganz unverständlich machte. Auch
die Frauenstimmen wirken nicht günstig, da die Darstellerinnen, um für den
weiten Raum verständlich zu sein, den Ton oft zu einer schreienden Schärfe
in die Höhe treiben. Der dramatische Dialog 'in seiner letzten Redaction
durch den ehemaligen Ortspfarrer, jetzt geistlichen Rath Daisenber ger,
der auch noch trotz seiner hohen Jahre die Oberleitung des Ganzen führt,
ist durchgängig sehr angemessen; eine prononcirt katholische Ueberschwenglich-
keit ist durchaus fern gehalten, ebenso wie in dramatischer Hinsicht affectirtes
Pathos.

Daß die Musik einen sehr wesentlichen Antheil an der ganzen Aus¬
führung hat, wird man aus den gegebenen Andeutungen schon erkennen.
Es sei jedoch hier noch hinzugefügt, daß die ganze musikalische Composition
-- es ist noch dieselbe, welche bei der Umarbeitung von 1816 und 1820
Rochus Dedler dem Werke gegeben -- einen so großen Umfang hat wie
das umfangreichste Oratorium. Die Musik wechselt mit Chören, Arien,
Recitativen, zwei- bis vierstimmigen Gesängen, und sie ist auch ganz im Stil
der bessern Oratorien gehalten. Sie wäre wohl werth, in weitern Kreisen
bekannt zu werden, um so mehr als sie hier, bei dem Passionsspiele, kaum
zu einer Wirkung kommt; ja durch ihre übermäßige Länge wirkt sie zwischen
der dramatischen Handlung eher hemmend. Aber Bewunderung verdient auch
hier der Fleiß und die Ausdauer der dabei Mitwirkenden. Diese ungeschwächte
Hingabe an die Sache ist es überhaupt, was wesentlich dem ganzen Spiele
zu einem Sieg verhilft: in der ganzen, oft sehr schwierigen musikalischen
Composition kein verfehlter Einsatz, in der dramatischen Darstellung nicht
ein einziges Stocken im Dialog, nicht ein Verzögern bet den Auftritten!

Wenn trotzdem uns manchmal ein Gefühl des Mißbehagens beschleicht
so liegt dies nicht in dem Mangelhaften der künstlerischen Kräfte, sondern es
liegt eben in dem Gegenstande, in demselben Motiv, welches allenthalben
so große Neugier und so viel Interesse erregt. Der nicht auszugleichende
Zwiespalt dieses, einer fernen Vergangenheit angehörenden religiös-theatrali¬
schen Stoffes und einer Aufführung, die in Vielem dem geläuterten Ge¬
schmacke der Gegenwart angepaßt ist, tritt am stärksten in der Scene der
Kreuzigung hervor. Wenn auch gerade hier bei aller grausamen Wahr¬
heit der Darstellung mit wirklich feinem Takt und Schicklichkeitsgefühl ver¬
fahren ist, so macht die Scene dennoch einen peinlichen, ja das Gefühl em¬
pörenden Eindruck. Ein Passionsspiel ohne die Kreuzigung wäre allerdings
etwas völlig vergebliches und zweckloses, aber die Kreuzigung selbst ist unserer


Grenzboten III. 1870. 7

Ohr, wenn man den Darsteller des Christus so häufig von seinem „Vatter"
u. tgi. sprechen hört. Am schlimmsten klang der Dialekt bei dem wohlge¬
nährten Darsteller des Herodes, da bei diesem noch das harte tirolische den
Klang verhäßlichte und oft genug die Rede ganz unverständlich machte. Auch
die Frauenstimmen wirken nicht günstig, da die Darstellerinnen, um für den
weiten Raum verständlich zu sein, den Ton oft zu einer schreienden Schärfe
in die Höhe treiben. Der dramatische Dialog 'in seiner letzten Redaction
durch den ehemaligen Ortspfarrer, jetzt geistlichen Rath Daisenber ger,
der auch noch trotz seiner hohen Jahre die Oberleitung des Ganzen führt,
ist durchgängig sehr angemessen; eine prononcirt katholische Ueberschwenglich-
keit ist durchaus fern gehalten, ebenso wie in dramatischer Hinsicht affectirtes
Pathos.

Daß die Musik einen sehr wesentlichen Antheil an der ganzen Aus¬
führung hat, wird man aus den gegebenen Andeutungen schon erkennen.
Es sei jedoch hier noch hinzugefügt, daß die ganze musikalische Composition
— es ist noch dieselbe, welche bei der Umarbeitung von 1816 und 1820
Rochus Dedler dem Werke gegeben — einen so großen Umfang hat wie
das umfangreichste Oratorium. Die Musik wechselt mit Chören, Arien,
Recitativen, zwei- bis vierstimmigen Gesängen, und sie ist auch ganz im Stil
der bessern Oratorien gehalten. Sie wäre wohl werth, in weitern Kreisen
bekannt zu werden, um so mehr als sie hier, bei dem Passionsspiele, kaum
zu einer Wirkung kommt; ja durch ihre übermäßige Länge wirkt sie zwischen
der dramatischen Handlung eher hemmend. Aber Bewunderung verdient auch
hier der Fleiß und die Ausdauer der dabei Mitwirkenden. Diese ungeschwächte
Hingabe an die Sache ist es überhaupt, was wesentlich dem ganzen Spiele
zu einem Sieg verhilft: in der ganzen, oft sehr schwierigen musikalischen
Composition kein verfehlter Einsatz, in der dramatischen Darstellung nicht
ein einziges Stocken im Dialog, nicht ein Verzögern bet den Auftritten!

Wenn trotzdem uns manchmal ein Gefühl des Mißbehagens beschleicht
so liegt dies nicht in dem Mangelhaften der künstlerischen Kräfte, sondern es
liegt eben in dem Gegenstande, in demselben Motiv, welches allenthalben
so große Neugier und so viel Interesse erregt. Der nicht auszugleichende
Zwiespalt dieses, einer fernen Vergangenheit angehörenden religiös-theatrali¬
schen Stoffes und einer Aufführung, die in Vielem dem geläuterten Ge¬
schmacke der Gegenwart angepaßt ist, tritt am stärksten in der Scene der
Kreuzigung hervor. Wenn auch gerade hier bei aller grausamen Wahr¬
heit der Darstellung mit wirklich feinem Takt und Schicklichkeitsgefühl ver¬
fahren ist, so macht die Scene dennoch einen peinlichen, ja das Gefühl em¬
pörenden Eindruck. Ein Passionsspiel ohne die Kreuzigung wäre allerdings
etwas völlig vergebliches und zweckloses, aber die Kreuzigung selbst ist unserer


Grenzboten III. 1870. 7
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[0057] Ohr, wenn man den Darsteller des Christus so häufig von seinem „Vatter" u. tgi. sprechen hört. Am schlimmsten klang der Dialekt bei dem wohlge¬ nährten Darsteller des Herodes, da bei diesem noch das harte tirolische den Klang verhäßlichte und oft genug die Rede ganz unverständlich machte. Auch die Frauenstimmen wirken nicht günstig, da die Darstellerinnen, um für den weiten Raum verständlich zu sein, den Ton oft zu einer schreienden Schärfe in die Höhe treiben. Der dramatische Dialog 'in seiner letzten Redaction durch den ehemaligen Ortspfarrer, jetzt geistlichen Rath Daisenber ger, der auch noch trotz seiner hohen Jahre die Oberleitung des Ganzen führt, ist durchgängig sehr angemessen; eine prononcirt katholische Ueberschwenglich- keit ist durchaus fern gehalten, ebenso wie in dramatischer Hinsicht affectirtes Pathos. Daß die Musik einen sehr wesentlichen Antheil an der ganzen Aus¬ führung hat, wird man aus den gegebenen Andeutungen schon erkennen. Es sei jedoch hier noch hinzugefügt, daß die ganze musikalische Composition — es ist noch dieselbe, welche bei der Umarbeitung von 1816 und 1820 Rochus Dedler dem Werke gegeben — einen so großen Umfang hat wie das umfangreichste Oratorium. Die Musik wechselt mit Chören, Arien, Recitativen, zwei- bis vierstimmigen Gesängen, und sie ist auch ganz im Stil der bessern Oratorien gehalten. Sie wäre wohl werth, in weitern Kreisen bekannt zu werden, um so mehr als sie hier, bei dem Passionsspiele, kaum zu einer Wirkung kommt; ja durch ihre übermäßige Länge wirkt sie zwischen der dramatischen Handlung eher hemmend. Aber Bewunderung verdient auch hier der Fleiß und die Ausdauer der dabei Mitwirkenden. Diese ungeschwächte Hingabe an die Sache ist es überhaupt, was wesentlich dem ganzen Spiele zu einem Sieg verhilft: in der ganzen, oft sehr schwierigen musikalischen Composition kein verfehlter Einsatz, in der dramatischen Darstellung nicht ein einziges Stocken im Dialog, nicht ein Verzögern bet den Auftritten! Wenn trotzdem uns manchmal ein Gefühl des Mißbehagens beschleicht so liegt dies nicht in dem Mangelhaften der künstlerischen Kräfte, sondern es liegt eben in dem Gegenstande, in demselben Motiv, welches allenthalben so große Neugier und so viel Interesse erregt. Der nicht auszugleichende Zwiespalt dieses, einer fernen Vergangenheit angehörenden religiös-theatrali¬ schen Stoffes und einer Aufführung, die in Vielem dem geläuterten Ge¬ schmacke der Gegenwart angepaßt ist, tritt am stärksten in der Scene der Kreuzigung hervor. Wenn auch gerade hier bei aller grausamen Wahr¬ heit der Darstellung mit wirklich feinem Takt und Schicklichkeitsgefühl ver¬ fahren ist, so macht die Scene dennoch einen peinlichen, ja das Gefühl em¬ pörenden Eindruck. Ein Passionsspiel ohne die Kreuzigung wäre allerdings etwas völlig vergebliches und zweckloses, aber die Kreuzigung selbst ist unserer Grenzboten III. 1870. 7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/57>, abgerufen am 17.06.2024.