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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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dramatischen Empfindung so wiederstrebend, daß sie den bei manchen Mo¬
menten in dieser Aufführung erreichten tragischen Eindruck mit Keulen
niederschlägt. Mit dieser Dissonanz verlassen wir das merkwürdige Spiel,
zu welchem diesen Sommer wieder Hunderttausende aus weiter Ferne mit
Ueberwindung aller Beschwerlichkeiten reisen und das bedeutend genug ist.
um die Zuschauer acht Stunden hindurch in fortwährender Spannung zu
erhalten.

Diese unleugbare Wirkung, welcher sich auch der fremde Besucher nicht
entziehen kann, beruht hauptsächlich aus den starken Eindrücken, welche das
Massenspiel in Verbindung mit den Solorollen hervorbringt. Das Gewühl
der Menge, die bewegten Chöre machen viele Momente der Passionsgeschichte,
auch die immerhin episch gebundene Diction der Hauptrollen zuweilen so im"
ponirend, daß wir in dem geschlossenen Kasten unserer Kunstbühne nichts
völlig Entsprechendes an die Seite zu setzen haben. Und der Gedanke ist
nicht abzuweisen, daß es wohl eine Zeit in der künftigen Bildung unseres
Dramas geben kann, in welcher auch diese großen Effekte wieder von der
Kunst geistvoll und schön verwendet werden.

Die geschichtliche Entwickelung unseres Dramas hat einen eigenthüm¬
lichen Weg genommen. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts besaßen wir
ziemlich reichlich die großen Aufzüge, das Massenspiel, die wirksame Verbin-
dung der Bühne mit dem Markt, den Häusern, dem Bürgerleben des Orts,
dies Alles in den ungeschlachten Komödien und Tragödien, welche mit un¬
vollkommener Zurichtung epischer Stoffe auf den Marktplätzen der Städte
aufgeführt wurden. Nicht in gerader Linie hat sich aus ihnen das moderne
Drama entwickelt. Die gelehrte Schulkomödie und die Schauspiele der Höfe
stellten gegen den rohen Massenapparat dieser Bürgerstücke das Schauspiel
einer gelehrten oder vornehmen Bildung, in welchem beschränkte Personen¬
zahl und ein sorgfältig abgeschlossener Raum möglich machten, mehr von dem
Innern der Menschennatur in einer sauberer gegliederten Handlung zur Dar-
stellung zu bringen. Ohne Zweifel war das ein großer Fortschritt. Aber
daß unser Schauspiel aufhörte, ein großes Volksfest zu sein, und daß es all-
mälig das Abendvergnügen der Gebildeten wurde, das hat ihm auch enge
conventionelle Formen aufgedrängt und hat ihm eine Bühne gegeben, welche
den Schauspieler allzusehr vom Publikum scheidet, die Bewegungen in dem
abgeschlossenen Raume sehr beschränkt und das Zusammenspiel des Helden
mit einem Chor fast unmöglich macht. Die griechische Tragödie und das
alte attische Lustspiel blieben nach dieser Richtung viel volksmäßiger organi-
sirt. Es mag Anstoß erregen, wenn man behauptet, daß dieses bayrische
Bauernspiel im Ganzen eine bessere Vorstellung von den starken Wirkungen
einer antiken Trilogie etwa in der Zeit vor Aeschylus vermittelt, als die


dramatischen Empfindung so wiederstrebend, daß sie den bei manchen Mo¬
menten in dieser Aufführung erreichten tragischen Eindruck mit Keulen
niederschlägt. Mit dieser Dissonanz verlassen wir das merkwürdige Spiel,
zu welchem diesen Sommer wieder Hunderttausende aus weiter Ferne mit
Ueberwindung aller Beschwerlichkeiten reisen und das bedeutend genug ist.
um die Zuschauer acht Stunden hindurch in fortwährender Spannung zu
erhalten.

Diese unleugbare Wirkung, welcher sich auch der fremde Besucher nicht
entziehen kann, beruht hauptsächlich aus den starken Eindrücken, welche das
Massenspiel in Verbindung mit den Solorollen hervorbringt. Das Gewühl
der Menge, die bewegten Chöre machen viele Momente der Passionsgeschichte,
auch die immerhin episch gebundene Diction der Hauptrollen zuweilen so im«
ponirend, daß wir in dem geschlossenen Kasten unserer Kunstbühne nichts
völlig Entsprechendes an die Seite zu setzen haben. Und der Gedanke ist
nicht abzuweisen, daß es wohl eine Zeit in der künftigen Bildung unseres
Dramas geben kann, in welcher auch diese großen Effekte wieder von der
Kunst geistvoll und schön verwendet werden.

Die geschichtliche Entwickelung unseres Dramas hat einen eigenthüm¬
lichen Weg genommen. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts besaßen wir
ziemlich reichlich die großen Aufzüge, das Massenspiel, die wirksame Verbin-
dung der Bühne mit dem Markt, den Häusern, dem Bürgerleben des Orts,
dies Alles in den ungeschlachten Komödien und Tragödien, welche mit un¬
vollkommener Zurichtung epischer Stoffe auf den Marktplätzen der Städte
aufgeführt wurden. Nicht in gerader Linie hat sich aus ihnen das moderne
Drama entwickelt. Die gelehrte Schulkomödie und die Schauspiele der Höfe
stellten gegen den rohen Massenapparat dieser Bürgerstücke das Schauspiel
einer gelehrten oder vornehmen Bildung, in welchem beschränkte Personen¬
zahl und ein sorgfältig abgeschlossener Raum möglich machten, mehr von dem
Innern der Menschennatur in einer sauberer gegliederten Handlung zur Dar-
stellung zu bringen. Ohne Zweifel war das ein großer Fortschritt. Aber
daß unser Schauspiel aufhörte, ein großes Volksfest zu sein, und daß es all-
mälig das Abendvergnügen der Gebildeten wurde, das hat ihm auch enge
conventionelle Formen aufgedrängt und hat ihm eine Bühne gegeben, welche
den Schauspieler allzusehr vom Publikum scheidet, die Bewegungen in dem
abgeschlossenen Raume sehr beschränkt und das Zusammenspiel des Helden
mit einem Chor fast unmöglich macht. Die griechische Tragödie und das
alte attische Lustspiel blieben nach dieser Richtung viel volksmäßiger organi-
sirt. Es mag Anstoß erregen, wenn man behauptet, daß dieses bayrische
Bauernspiel im Ganzen eine bessere Vorstellung von den starken Wirkungen
einer antiken Trilogie etwa in der Zeit vor Aeschylus vermittelt, als die


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[0058] dramatischen Empfindung so wiederstrebend, daß sie den bei manchen Mo¬ menten in dieser Aufführung erreichten tragischen Eindruck mit Keulen niederschlägt. Mit dieser Dissonanz verlassen wir das merkwürdige Spiel, zu welchem diesen Sommer wieder Hunderttausende aus weiter Ferne mit Ueberwindung aller Beschwerlichkeiten reisen und das bedeutend genug ist. um die Zuschauer acht Stunden hindurch in fortwährender Spannung zu erhalten. Diese unleugbare Wirkung, welcher sich auch der fremde Besucher nicht entziehen kann, beruht hauptsächlich aus den starken Eindrücken, welche das Massenspiel in Verbindung mit den Solorollen hervorbringt. Das Gewühl der Menge, die bewegten Chöre machen viele Momente der Passionsgeschichte, auch die immerhin episch gebundene Diction der Hauptrollen zuweilen so im« ponirend, daß wir in dem geschlossenen Kasten unserer Kunstbühne nichts völlig Entsprechendes an die Seite zu setzen haben. Und der Gedanke ist nicht abzuweisen, daß es wohl eine Zeit in der künftigen Bildung unseres Dramas geben kann, in welcher auch diese großen Effekte wieder von der Kunst geistvoll und schön verwendet werden. Die geschichtliche Entwickelung unseres Dramas hat einen eigenthüm¬ lichen Weg genommen. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts besaßen wir ziemlich reichlich die großen Aufzüge, das Massenspiel, die wirksame Verbin- dung der Bühne mit dem Markt, den Häusern, dem Bürgerleben des Orts, dies Alles in den ungeschlachten Komödien und Tragödien, welche mit un¬ vollkommener Zurichtung epischer Stoffe auf den Marktplätzen der Städte aufgeführt wurden. Nicht in gerader Linie hat sich aus ihnen das moderne Drama entwickelt. Die gelehrte Schulkomödie und die Schauspiele der Höfe stellten gegen den rohen Massenapparat dieser Bürgerstücke das Schauspiel einer gelehrten oder vornehmen Bildung, in welchem beschränkte Personen¬ zahl und ein sorgfältig abgeschlossener Raum möglich machten, mehr von dem Innern der Menschennatur in einer sauberer gegliederten Handlung zur Dar- stellung zu bringen. Ohne Zweifel war das ein großer Fortschritt. Aber daß unser Schauspiel aufhörte, ein großes Volksfest zu sein, und daß es all- mälig das Abendvergnügen der Gebildeten wurde, das hat ihm auch enge conventionelle Formen aufgedrängt und hat ihm eine Bühne gegeben, welche den Schauspieler allzusehr vom Publikum scheidet, die Bewegungen in dem abgeschlossenen Raume sehr beschränkt und das Zusammenspiel des Helden mit einem Chor fast unmöglich macht. Die griechische Tragödie und das alte attische Lustspiel blieben nach dieser Richtung viel volksmäßiger organi- sirt. Es mag Anstoß erregen, wenn man behauptet, daß dieses bayrische Bauernspiel im Ganzen eine bessere Vorstellung von den starken Wirkungen einer antiken Trilogie etwa in der Zeit vor Aeschylus vermittelt, als die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/58>, abgerufen am 17.06.2024.