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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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ten und befürworteten Bundestabakssteuer, ebensowenig aber auch von der
seitens der Demokraten gewünschten Uebernahme der höheren Unterrichtsanstal¬
ten durch den Bund, von einer eidgenössischen Universität u. s. w., worüber
grade auch in den letzten Monaten in der deutschen und noch mehr in der
französischen Schweiz viel geredet und geschrieben wurde. Alle diese Lücken
werden von den Demokraten scharf getadelt. Es schwebt ihnen etwas wie
die Idee einer hohen kulturhistorischen Mission der Schweiz vor, zufolge wel¬
cher diese sowohl in formal politischer Beziehung das Muster eines Volks-
staates mit möglichst allseitiger aktiver Betheiligung der Einzelnen am öffent¬
lichen Leben, als auch dasjenige eines durch straff zügelnde und bis in die
äußersten Glieder hinausreichende Centralgemalt zusammengehaltenen Staats¬
organismus werde. Als wesentliche Hindernisse der Verwirklichung dieser Ideen
bezeichnen sie aber die Kantone, welche durch ihre Geschichte, ihre Religion, ihre
geographische Lage u. s. w. hinter den foctgeschrittenern und nach ihrer Be¬
völkerungszahl auch die Mehrheit bildenden zurückgeblieben sind und dennoch
kraft der bestehenden Bundesverfassung mit ihrer "Standesstimme" im ge¬
meinsamen Rathe ebenso viel zählen wie jene andern. Dieser Hemmschuh
würde nun freilich entfernt, wenn das System der Gleichberechtigung des
Ständerathes, der die Stimme der Kantone mit dem Nationalrathe, der
diejenigen des gesammten Schweizervolkes vertritt, und der nothwendigen
Uebereinstimmung beider Räthe zu einem giltigen gesetzgeberischen Atte ab¬
geschafft oder wenigstens abgeschwächt würde. Die vorgeschrittensten Demo¬
kraten wollen daher gänzliche Aufhebung des Ständerathes, die weniger weit¬
gehenden verlangen wenigstens die Aufhebung des kantonalen Votums bei
den Abstimmungen über Fragen der Bundesverfassung, nachdem über die¬
selben eine Einigung des Stände- und des Nationalrathes erzielt worden,
und Ersetzung desselben durch einfache Stimmenmehrheit innerhalb der Ge¬
sammtheit der Schweizerbürger.

Die Einwendungen, welche gegen diese Vorschläge gemacht werden, sind
vorwiegend historisch-politischer Natur und lassen sich auf den Gedanken
zurückführen, daß das kantonale Leben und Bewußtsein noch zu fest an
der Scholle hänge, als daß man das Volk schon jetzt gleichsam mit einem
Rucke auf diese Höhe hinaufsehen dürfe. --

Der Artikel, welcher auf dem Reformprogramm des Bundesrathes die
Reihe eröffnet, ist der über die Organisation des Bundesheeres (Art. 19
der Bundesverfassung). Nach demselben wird das bisherige Scalasystem
aufgehoben, das Bundesheer wird auch fernerhin aus den Konlingenten der
Kantone gebildet, aber diese umfassen jetzt die gesammte wehrpflichtige Mann¬
schaft. Die Heereseintheilung in Auszug und Reserve fällt weg. Die Seel-


ten und befürworteten Bundestabakssteuer, ebensowenig aber auch von der
seitens der Demokraten gewünschten Uebernahme der höheren Unterrichtsanstal¬
ten durch den Bund, von einer eidgenössischen Universität u. s. w., worüber
grade auch in den letzten Monaten in der deutschen und noch mehr in der
französischen Schweiz viel geredet und geschrieben wurde. Alle diese Lücken
werden von den Demokraten scharf getadelt. Es schwebt ihnen etwas wie
die Idee einer hohen kulturhistorischen Mission der Schweiz vor, zufolge wel¬
cher diese sowohl in formal politischer Beziehung das Muster eines Volks-
staates mit möglichst allseitiger aktiver Betheiligung der Einzelnen am öffent¬
lichen Leben, als auch dasjenige eines durch straff zügelnde und bis in die
äußersten Glieder hinausreichende Centralgemalt zusammengehaltenen Staats¬
organismus werde. Als wesentliche Hindernisse der Verwirklichung dieser Ideen
bezeichnen sie aber die Kantone, welche durch ihre Geschichte, ihre Religion, ihre
geographische Lage u. s. w. hinter den foctgeschrittenern und nach ihrer Be¬
völkerungszahl auch die Mehrheit bildenden zurückgeblieben sind und dennoch
kraft der bestehenden Bundesverfassung mit ihrer „Standesstimme" im ge¬
meinsamen Rathe ebenso viel zählen wie jene andern. Dieser Hemmschuh
würde nun freilich entfernt, wenn das System der Gleichberechtigung des
Ständerathes, der die Stimme der Kantone mit dem Nationalrathe, der
diejenigen des gesammten Schweizervolkes vertritt, und der nothwendigen
Uebereinstimmung beider Räthe zu einem giltigen gesetzgeberischen Atte ab¬
geschafft oder wenigstens abgeschwächt würde. Die vorgeschrittensten Demo¬
kraten wollen daher gänzliche Aufhebung des Ständerathes, die weniger weit¬
gehenden verlangen wenigstens die Aufhebung des kantonalen Votums bei
den Abstimmungen über Fragen der Bundesverfassung, nachdem über die¬
selben eine Einigung des Stände- und des Nationalrathes erzielt worden,
und Ersetzung desselben durch einfache Stimmenmehrheit innerhalb der Ge¬
sammtheit der Schweizerbürger.

Die Einwendungen, welche gegen diese Vorschläge gemacht werden, sind
vorwiegend historisch-politischer Natur und lassen sich auf den Gedanken
zurückführen, daß das kantonale Leben und Bewußtsein noch zu fest an
der Scholle hänge, als daß man das Volk schon jetzt gleichsam mit einem
Rucke auf diese Höhe hinaufsehen dürfe. —

Der Artikel, welcher auf dem Reformprogramm des Bundesrathes die
Reihe eröffnet, ist der über die Organisation des Bundesheeres (Art. 19
der Bundesverfassung). Nach demselben wird das bisherige Scalasystem
aufgehoben, das Bundesheer wird auch fernerhin aus den Konlingenten der
Kantone gebildet, aber diese umfassen jetzt die gesammte wehrpflichtige Mann¬
schaft. Die Heereseintheilung in Auszug und Reserve fällt weg. Die Seel-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/96>, abgerufen am 17.06.2024.