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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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überall, wo der Wahrheit gelingt, durch die weiten Maschen des offiziellen
Lügennetzes hindurchzuschlüpfen.

Das übelste Zeichen für die Usurpatoren der französischen Staatsmacht
ist aber, daß dieser Geist der Unzufriedenheit, der Entmuthigung und Meister-
losigkeit auch tief in all die Heereskörper eingedrungen ist, die uns heut noch
gegenüberstehen. Solche munteren Laufkünste, wie sie die Truppen des
Generals Robim von der Faideherb'schen Armee, die Garibaldianer bei ihren
ersten Rencontres mit den Unsern, die Pariser Besatzung bet Zurückwerfung
ihrer jüngsten Ausfälle, angetreten haben, sind zwar schon sehr achtbare
Leistungen der Selbstrettung gewesen, und werden namentlich durch die panische
Flucht nach den Tagen des "Verraths" von Wörth und Saarbrücken keines¬
wegs übertroffen. Aber jedes bisher für möglich gehaltene Maß militärischer
Demoralisation wird bei weitem überragt durch die Loirearmee nach der
Schlacht von Le Mans. Ueber zwanzigtausend unverwundete Gefangene hat
der Tag in unsre Hände gegeben. Für sie war nicht Umgehung durch den
Feind, nicht die Einsicht, daß man gegen eine momentan erdrückende Ueber¬
macht stehe, der Grund der Waffenstreckung, wie etwa bei den Gefangnen
vor der Kapitulation von Sedan. Die meisten von ihnen waren diesmal
vielmehr des Entrinnens sicher. Aber sie wollten nicht länger streiten. Sie
erachteten die Fortführung des Kampfes ebenso hoffnungslos, als unwür¬
dig unter der wahnsinnigen Führung des vom Schlachtfeld flüchtenden Dic¬
tators. Ganze Detachements gaben sich ohne Schwertstreich gefangen. Das
ist das gegenwärtig in der französischen Armee vorherrschende Stimmungsbild.
Die Truppen der Pariser Armee, die bei der letzten Musterung unter den
Augen von Trochu um Frieden riefen, bilden das Pendant dazu.

Charakteristisch genug tritt gleichzeitig mit diesen überhandnehmenden
Symptomen der Zuchtlosigkeit die französische Kriegführungsmethode in jenes
Stadium feiger Tücke und mordender Wildheit, jener Lossagung von aller
Ehrenhaftigkeit, aller Völkersitte und allem Kriegsrecht, welches durch das
jüngste Rundschreiben des Bundeskanzlers so klar und ausführlich bezeichnet
ist. Charakteristisch ist dieser organisirte Mord und Ehrenwortbruch, die
Mißhandlung von Verwundeten und die Verstümmelung von Gefangenen, die
Verhöhnung des rothen Kreuzes und die Erschießung von Parlamentären --
all das nach Grundsatz und System betrieben -- sowohl für die Regierung,
als für das Heer. Bon dem letztern namentlich wissen wir, daß eine Menge
wohlhabender und gebildeter junger Leute durch die Nationalvertheidigung
zur Fahne gepreßt wurden, daß daneben auch die Strafeompagnien und
die afrikanischen Söldnerhorden sich für die eine und untheilbare Republik
schlagen. Man weiß nun genau, welche dieser Elemente im französischen
Heer die Oberhand haben. Man weiß nun. welch eigenthümlicher Art die


Grenzboten 7. 1871. 20

überall, wo der Wahrheit gelingt, durch die weiten Maschen des offiziellen
Lügennetzes hindurchzuschlüpfen.

Das übelste Zeichen für die Usurpatoren der französischen Staatsmacht
ist aber, daß dieser Geist der Unzufriedenheit, der Entmuthigung und Meister-
losigkeit auch tief in all die Heereskörper eingedrungen ist, die uns heut noch
gegenüberstehen. Solche munteren Laufkünste, wie sie die Truppen des
Generals Robim von der Faideherb'schen Armee, die Garibaldianer bei ihren
ersten Rencontres mit den Unsern, die Pariser Besatzung bet Zurückwerfung
ihrer jüngsten Ausfälle, angetreten haben, sind zwar schon sehr achtbare
Leistungen der Selbstrettung gewesen, und werden namentlich durch die panische
Flucht nach den Tagen des „Verraths" von Wörth und Saarbrücken keines¬
wegs übertroffen. Aber jedes bisher für möglich gehaltene Maß militärischer
Demoralisation wird bei weitem überragt durch die Loirearmee nach der
Schlacht von Le Mans. Ueber zwanzigtausend unverwundete Gefangene hat
der Tag in unsre Hände gegeben. Für sie war nicht Umgehung durch den
Feind, nicht die Einsicht, daß man gegen eine momentan erdrückende Ueber¬
macht stehe, der Grund der Waffenstreckung, wie etwa bei den Gefangnen
vor der Kapitulation von Sedan. Die meisten von ihnen waren diesmal
vielmehr des Entrinnens sicher. Aber sie wollten nicht länger streiten. Sie
erachteten die Fortführung des Kampfes ebenso hoffnungslos, als unwür¬
dig unter der wahnsinnigen Führung des vom Schlachtfeld flüchtenden Dic¬
tators. Ganze Detachements gaben sich ohne Schwertstreich gefangen. Das
ist das gegenwärtig in der französischen Armee vorherrschende Stimmungsbild.
Die Truppen der Pariser Armee, die bei der letzten Musterung unter den
Augen von Trochu um Frieden riefen, bilden das Pendant dazu.

Charakteristisch genug tritt gleichzeitig mit diesen überhandnehmenden
Symptomen der Zuchtlosigkeit die französische Kriegführungsmethode in jenes
Stadium feiger Tücke und mordender Wildheit, jener Lossagung von aller
Ehrenhaftigkeit, aller Völkersitte und allem Kriegsrecht, welches durch das
jüngste Rundschreiben des Bundeskanzlers so klar und ausführlich bezeichnet
ist. Charakteristisch ist dieser organisirte Mord und Ehrenwortbruch, die
Mißhandlung von Verwundeten und die Verstümmelung von Gefangenen, die
Verhöhnung des rothen Kreuzes und die Erschießung von Parlamentären —
all das nach Grundsatz und System betrieben — sowohl für die Regierung,
als für das Heer. Bon dem letztern namentlich wissen wir, daß eine Menge
wohlhabender und gebildeter junger Leute durch die Nationalvertheidigung
zur Fahne gepreßt wurden, daß daneben auch die Strafeompagnien und
die afrikanischen Söldnerhorden sich für die eine und untheilbare Republik
schlagen. Man weiß nun genau, welche dieser Elemente im französischen
Heer die Oberhand haben. Man weiß nun. welch eigenthümlicher Art die


Grenzboten 7. 1871. 20
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/161>, abgerufen am 17.06.2024.