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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Leute oder unter der Guillotine. Dasselbe wiederholte sich, wenn auch nicht
in so tragischer Weise, auch in diesem Kriege. Wie erging es in dieser
Beziehung dem braven Commandanten von S er aß dur g, dem tapfern und festen
General Adrias! Nicht nur seine Soldaten, seine eigenen Offiziere haben
ihn in einer Weise verlästert, daß das, was sie damit gewollt, auf sie zurück¬
fiel, und ihn in den Augen aller unbefangen Denkenden, selbst unter seinen
ehemaligen Gegnern, nur um so höher hob. Selbst seine deutsche Abstam¬
mung machte man ihm zum Vorwurf. Die Folge davon war ein neuer, tief
eingreifender Uebelstand: das häufige Wechseln der höheren Führer.

Die Leichtgläubigkeit hat der französische Soldat mit allen seinen Lands¬
leuten gemein, soweit dabei nämlich seinen Wünschen und Erwartungen geschmei¬
chelt wird. Zum Prüfen und Erwägen nimmt er sich keine Zeit. Das geht
nicht selten über das Kindliche, man möchte sagen Schwachsinnige hinaus. Die¬
jenigen, welche ihn zu ihren Zwecken benutzen wollten, haben dieses Mittel auf
das beste auszubeuten verstanden, namentlich in diesem Kriege. Was man
dabei dem Franzosen zu glauben zumuthete, übersteigt alle Grenzen. Ein
Deutscher würde sich aufs Tiefste indignirt fühlen und sich zornmüthig gegen
Die wenden, die ihm solche Enten vorzusetzen wagen. Der Franzose nimmt
das gelassen hin, und erfährt er auch am nächsten Tage die Wahrheit, so
glaubt er diese nicht, oder, wenn er sich wirklich überzeugen muß, geht er
ruhig darüber hin und läßt sich schon im nächsten Moment die frechste Lüge
wieder aufbinden. Je fetter die Ente ist, desto schmackhafter findet er sie. --

Es wirft kein günstiges Licht auf den Charakter und die Bildungsstufe
eines Volkes, wenn es sich dergleichen gefallen, so mit sich spielen läßt; aber
geradezu unwürdig ist es einer Regierung und aller Derer, welche eine hö¬
here Stellung im Staate einnehmen, wenn diese aus der Unwahrheit ein
raffinirt-organisirtes System construiren, ähnlich unverschämter Reclame im
Gebiete der Industrie und -- des Schwindels. Und das ist jetzt in Frank¬
reich in vollem Flor, man betreibt es fabrikmäßig. Selbst das sonst so ruhige
und taktvolle preußische "Militär-Wochenblatt" bringt fast in jeder
Nummer Auszüge aus französischen Veröffentlichungen, die es in einer beson¬
deren Rubrik mit der Ueberschrift "Französische Lügenberichte" zu¬
sammenstellt. Wohl nichts kann demoralisirender auf eine ganze Nation ein¬
wirken, als der von Oben her nicht nur begünstigte, sondern von da selbst
ausgestreute Lug und Trug. Das Volk bringt man um Treu und Glauben
und sich schließlich doch um alles Vertrauen, denn wenn auch noch so lange
an einem Lügengewebe, dabei meist plumper Qualität, gesponnen wird, end¬
lich reißt doch der Faden oder geht aus. --

Namentlich das Letztere mußte im höchsten Grad verderblich aus den
Sinn und Geist des Heeres einwirken, und nimmt man die übrige Corruption


Leute oder unter der Guillotine. Dasselbe wiederholte sich, wenn auch nicht
in so tragischer Weise, auch in diesem Kriege. Wie erging es in dieser
Beziehung dem braven Commandanten von S er aß dur g, dem tapfern und festen
General Adrias! Nicht nur seine Soldaten, seine eigenen Offiziere haben
ihn in einer Weise verlästert, daß das, was sie damit gewollt, auf sie zurück¬
fiel, und ihn in den Augen aller unbefangen Denkenden, selbst unter seinen
ehemaligen Gegnern, nur um so höher hob. Selbst seine deutsche Abstam¬
mung machte man ihm zum Vorwurf. Die Folge davon war ein neuer, tief
eingreifender Uebelstand: das häufige Wechseln der höheren Führer.

Die Leichtgläubigkeit hat der französische Soldat mit allen seinen Lands¬
leuten gemein, soweit dabei nämlich seinen Wünschen und Erwartungen geschmei¬
chelt wird. Zum Prüfen und Erwägen nimmt er sich keine Zeit. Das geht
nicht selten über das Kindliche, man möchte sagen Schwachsinnige hinaus. Die¬
jenigen, welche ihn zu ihren Zwecken benutzen wollten, haben dieses Mittel auf
das beste auszubeuten verstanden, namentlich in diesem Kriege. Was man
dabei dem Franzosen zu glauben zumuthete, übersteigt alle Grenzen. Ein
Deutscher würde sich aufs Tiefste indignirt fühlen und sich zornmüthig gegen
Die wenden, die ihm solche Enten vorzusetzen wagen. Der Franzose nimmt
das gelassen hin, und erfährt er auch am nächsten Tage die Wahrheit, so
glaubt er diese nicht, oder, wenn er sich wirklich überzeugen muß, geht er
ruhig darüber hin und läßt sich schon im nächsten Moment die frechste Lüge
wieder aufbinden. Je fetter die Ente ist, desto schmackhafter findet er sie. —

Es wirft kein günstiges Licht auf den Charakter und die Bildungsstufe
eines Volkes, wenn es sich dergleichen gefallen, so mit sich spielen läßt; aber
geradezu unwürdig ist es einer Regierung und aller Derer, welche eine hö¬
here Stellung im Staate einnehmen, wenn diese aus der Unwahrheit ein
raffinirt-organisirtes System construiren, ähnlich unverschämter Reclame im
Gebiete der Industrie und — des Schwindels. Und das ist jetzt in Frank¬
reich in vollem Flor, man betreibt es fabrikmäßig. Selbst das sonst so ruhige
und taktvolle preußische „Militär-Wochenblatt" bringt fast in jeder
Nummer Auszüge aus französischen Veröffentlichungen, die es in einer beson¬
deren Rubrik mit der Ueberschrift „Französische Lügenberichte" zu¬
sammenstellt. Wohl nichts kann demoralisirender auf eine ganze Nation ein¬
wirken, als der von Oben her nicht nur begünstigte, sondern von da selbst
ausgestreute Lug und Trug. Das Volk bringt man um Treu und Glauben
und sich schließlich doch um alles Vertrauen, denn wenn auch noch so lange
an einem Lügengewebe, dabei meist plumper Qualität, gesponnen wird, end¬
lich reißt doch der Faden oder geht aus. —

Namentlich das Letztere mußte im höchsten Grad verderblich aus den
Sinn und Geist des Heeres einwirken, und nimmt man die übrige Corruption


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/189>, abgerufen am 18.06.2024.