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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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Lin Kücköttck auf Iayern.

Wir Alle, die wir den deutschen Namen tragen, treten diesmal mit
einem Ernst an die Jahreswende, die ohne Beispiel in der Vergangenheit ist.
Mehr als die übrigen Staaten indessen hat Bayern Grund hiezu. Seine
Traditionen werden am tiefsten berührt, seine Zukunft erlebt die größte Neue¬
rung, sein Fall ist, wenn man so sagen darf, noch singulärer, als der der
übrigen Staaten. Die Gegensätze, die sich für uns in diesem Jahr zusammen¬
drängen, sind so weit gespannt, als ob Decennien zwischen ihnen lägen, die
Antithese, die die Weltgeschichte uns auferlegt, ist so schlagend, als sollte sie
selbst den stumpfesten Sinn zur Erkenntniß führen. Von dem Höhepunkt des
Particularismus stürzten wir uns in den deutschen Krieg, über die stärksten
Sondergelüste hinweg kommen wir mitten ins deutsche Reich , aus der bitter¬
sten Uneinigkeit in die Einheit. Es verlohnt sich in diesem Augenblicke wohl
der Mühe, einen kurzen Rückblick auf diese lehrreiche Vergangenheit zu werfen,
und dann erst sei unser Blick der Zukunft zugewendet.

Wir beginnen mit der Bemerkung, die wir oben vorausgeschickt -- es
war der Höhepunkt des Particularismus, auf dem wir uns bei dem Beginne
des Jahres und vor dem Beginne des Krieges befanden.

Die Kammerauflösung, die der vergeblichen Präsidentenwahl gefolgt war,
hate nicht das erwartete Ergebniß. Sie lieferte die Majorität in die Hände
einer Partei, die den Muth besaß, sich die "patriotische" zu nennen, und die
Mittel, alles das in Scene zu setzen, was diesem Namen widersprach. Ob¬
wohl sich ihre Macht nur auf ein Uebergewicht von 6--7 Stimmen stützte,
so ward dieselbe doch in der rücksichtslosesten Weise ausgenützt. So wurde
Herr v. Weis zum Präsidenten und Dr. Jörg zum ersten Secretair ernannt;
auch die Ausschüsse waren in den Händen derselben Partei und bei ihrer Wahl
lag nicht die Tauglichkeit, sondern nur die Farbe, nur die Intensität der
Parteirichtung zu Grunde. Den ersten Anlaß zum Kampfe bot die Adreß-
debatte; sie wurde mit einer Erbitterung geführt, die alle parlamentarischen
Schranken niederriß. Wenn man bisweilen die Klage vernahm, daß das
ultramontane Wesen mehr und mehr in ein revolutionäres Gepräge und in
chauvinistische Tendenzen verfalle, so erhielt dieser Satz in der Adreßdebatte
seine volle Bestätigung. Wir können auf ihren Verlauf an dieser Stelle nicht
eingehen, ihr Ende aber war, daß das Mißtrauensvotum gegen das Mini¬
sterium evident ward und daß Fürst Hohenlohe und Herr v. Hörmann von
ihrem Amte zurücktraten. Trotz der vielbetonten Solidarität war die Unter¬
stützung, die sie von Seite der übrigen Minister fanden, doch eine äußerst ge-


Lin Kücköttck auf Iayern.

Wir Alle, die wir den deutschen Namen tragen, treten diesmal mit
einem Ernst an die Jahreswende, die ohne Beispiel in der Vergangenheit ist.
Mehr als die übrigen Staaten indessen hat Bayern Grund hiezu. Seine
Traditionen werden am tiefsten berührt, seine Zukunft erlebt die größte Neue¬
rung, sein Fall ist, wenn man so sagen darf, noch singulärer, als der der
übrigen Staaten. Die Gegensätze, die sich für uns in diesem Jahr zusammen¬
drängen, sind so weit gespannt, als ob Decennien zwischen ihnen lägen, die
Antithese, die die Weltgeschichte uns auferlegt, ist so schlagend, als sollte sie
selbst den stumpfesten Sinn zur Erkenntniß führen. Von dem Höhepunkt des
Particularismus stürzten wir uns in den deutschen Krieg, über die stärksten
Sondergelüste hinweg kommen wir mitten ins deutsche Reich , aus der bitter¬
sten Uneinigkeit in die Einheit. Es verlohnt sich in diesem Augenblicke wohl
der Mühe, einen kurzen Rückblick auf diese lehrreiche Vergangenheit zu werfen,
und dann erst sei unser Blick der Zukunft zugewendet.

Wir beginnen mit der Bemerkung, die wir oben vorausgeschickt — es
war der Höhepunkt des Particularismus, auf dem wir uns bei dem Beginne
des Jahres und vor dem Beginne des Krieges befanden.

Die Kammerauflösung, die der vergeblichen Präsidentenwahl gefolgt war,
hate nicht das erwartete Ergebniß. Sie lieferte die Majorität in die Hände
einer Partei, die den Muth besaß, sich die „patriotische" zu nennen, und die
Mittel, alles das in Scene zu setzen, was diesem Namen widersprach. Ob¬
wohl sich ihre Macht nur auf ein Uebergewicht von 6—7 Stimmen stützte,
so ward dieselbe doch in der rücksichtslosesten Weise ausgenützt. So wurde
Herr v. Weis zum Präsidenten und Dr. Jörg zum ersten Secretair ernannt;
auch die Ausschüsse waren in den Händen derselben Partei und bei ihrer Wahl
lag nicht die Tauglichkeit, sondern nur die Farbe, nur die Intensität der
Parteirichtung zu Grunde. Den ersten Anlaß zum Kampfe bot die Adreß-
debatte; sie wurde mit einer Erbitterung geführt, die alle parlamentarischen
Schranken niederriß. Wenn man bisweilen die Klage vernahm, daß das
ultramontane Wesen mehr und mehr in ein revolutionäres Gepräge und in
chauvinistische Tendenzen verfalle, so erhielt dieser Satz in der Adreßdebatte
seine volle Bestätigung. Wir können auf ihren Verlauf an dieser Stelle nicht
eingehen, ihr Ende aber war, daß das Mißtrauensvotum gegen das Mini¬
sterium evident ward und daß Fürst Hohenlohe und Herr v. Hörmann von
ihrem Amte zurücktraten. Trotz der vielbetonten Solidarität war die Unter¬
stützung, die sie von Seite der übrigen Minister fanden, doch eine äußerst ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/44>, abgerufen am 24.05.2024.