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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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den ländlichen Gemeinden, durch die kleinlichsten localen Rücksichten bestimmten
Gemeinderäthe ad, deren einer vor nicht langer Zeit sogar einem öffentlichen
Rechtsanwalt die Verehelichungserlaubniß "wegen mangelnden Nachweises des
Nahrungsstandes" versagte. Es ist wohl der sprechendste Beweis für die
Verkommenheit der schwäbischen Demokratie, daß diese, die sonst immer für
Freiheit und Menschenrechte zu plaidiren sich den Anschein gab und neuestens
wieder aus der Ausnahme der Grundrechte in die Reichsverfassung politisches
Capital zu machen suchte, sich nicht scheute, die Erbitterung der Dorf¬
magnaten über die Emancipation der arbeitenden Klasse und über die drohende
Steigerung der Armenunterhaltungslast noch in der letzten Zeit zur Hetzerei
gegen das neue deutsche Reich auszubeuten. -- Im Uebrigen wartete man in
Schwaben wie bei jeder Gelegenheit so auch bei der Inauguration von Kaiser
und Reich anfangs auf die Initiative der Residenz. Hier aber wollte es bei
der Zurückhaltung desjenigen großen Theils der Bevölkerung, welcher seinen
Enthusiasmus von den Weisungen der regierenden Kreise abhängig zu machen
pflegt, zuerst nicht gelingen, eine allgemeine Manifestation der Freude über
die endlich errungene deutsche Reichseinheit ins Werk zu setzen. Im Gegen¬
theil war es dem Oberbürgermeister von Stuttgart, dem untrüglichen Baro¬
meter für die in den höheren Regionen jeweilig herrschende Stimmung, mit
Aufwendung feines ganzen Einflusses gelungen, die von den bürgerlichen
Collegien beabsichtigte Adresse an den deutschen Kaiser zu hintertreiben.
Woran der Magistrat zu München -- einstimmig -- nicht den geringsten Anstand
gefunden hatte, das galt jetzt in Stuttgart als ein Majestätsverbrechen. Man
sah in jedem unmittelbaren Verkehr der Unterthanen, noch mehr aber der
Gemeindebehörden mit dem neuen Reichsoberhaupt einen Verstoß gegen die
dem Landesherrn schuldigen Unterthanenpflichten und erklärte namentlich die
Schlußformel "allerunterthänigst" in den an den Kaiser gerichteten Adressen
als eine mit jenen Pflichten unvereinbare Illoyalität, ja der Servilismus
eines Staatsanwalts ging sogar so weit, aus einer solchen öffentlich aufge¬
legten Adresse geradezu die Entfernung jener Schlußformel zu verlangen.

Erst als der König selbst sich nach Versailles begab und bei seiner Rück¬
kehr der Jubel über seinen rückhaltsloser, opferbereiten Anschluß an die Sache
der Nation und über die durch den ruhmreichen Friedensschluß gesicherte
Reichseinheit in immer höher gehenden Wogen aus der Peripherie des Landes
nach dem Centrum sich bewegte, glaubte man in Stuttgart endlich ohne
Illoyalität auch des Kaisers und Reichs gedenken zu dürfen, und derselbe
Oberbürgermeister von Stuttgart, der kaum zuvor die Kaiseradresse unterdrückt
hatte, glaubte endlich -- am 7. März -- zum ersten Mal die Zeit gekommen, um
neben dem deutschen Vaterland und den verbündeten Fürsten auch dem
deutschen Kaiser in öffentlicher Festrede sein Heil! zurufen zu dürfen. Wir


Gebote" I. 1871. (.^

den ländlichen Gemeinden, durch die kleinlichsten localen Rücksichten bestimmten
Gemeinderäthe ad, deren einer vor nicht langer Zeit sogar einem öffentlichen
Rechtsanwalt die Verehelichungserlaubniß „wegen mangelnden Nachweises des
Nahrungsstandes" versagte. Es ist wohl der sprechendste Beweis für die
Verkommenheit der schwäbischen Demokratie, daß diese, die sonst immer für
Freiheit und Menschenrechte zu plaidiren sich den Anschein gab und neuestens
wieder aus der Ausnahme der Grundrechte in die Reichsverfassung politisches
Capital zu machen suchte, sich nicht scheute, die Erbitterung der Dorf¬
magnaten über die Emancipation der arbeitenden Klasse und über die drohende
Steigerung der Armenunterhaltungslast noch in der letzten Zeit zur Hetzerei
gegen das neue deutsche Reich auszubeuten. — Im Uebrigen wartete man in
Schwaben wie bei jeder Gelegenheit so auch bei der Inauguration von Kaiser
und Reich anfangs auf die Initiative der Residenz. Hier aber wollte es bei
der Zurückhaltung desjenigen großen Theils der Bevölkerung, welcher seinen
Enthusiasmus von den Weisungen der regierenden Kreise abhängig zu machen
pflegt, zuerst nicht gelingen, eine allgemeine Manifestation der Freude über
die endlich errungene deutsche Reichseinheit ins Werk zu setzen. Im Gegen¬
theil war es dem Oberbürgermeister von Stuttgart, dem untrüglichen Baro¬
meter für die in den höheren Regionen jeweilig herrschende Stimmung, mit
Aufwendung feines ganzen Einflusses gelungen, die von den bürgerlichen
Collegien beabsichtigte Adresse an den deutschen Kaiser zu hintertreiben.
Woran der Magistrat zu München — einstimmig — nicht den geringsten Anstand
gefunden hatte, das galt jetzt in Stuttgart als ein Majestätsverbrechen. Man
sah in jedem unmittelbaren Verkehr der Unterthanen, noch mehr aber der
Gemeindebehörden mit dem neuen Reichsoberhaupt einen Verstoß gegen die
dem Landesherrn schuldigen Unterthanenpflichten und erklärte namentlich die
Schlußformel „allerunterthänigst" in den an den Kaiser gerichteten Adressen
als eine mit jenen Pflichten unvereinbare Illoyalität, ja der Servilismus
eines Staatsanwalts ging sogar so weit, aus einer solchen öffentlich aufge¬
legten Adresse geradezu die Entfernung jener Schlußformel zu verlangen.

Erst als der König selbst sich nach Versailles begab und bei seiner Rück¬
kehr der Jubel über seinen rückhaltsloser, opferbereiten Anschluß an die Sache
der Nation und über die durch den ruhmreichen Friedensschluß gesicherte
Reichseinheit in immer höher gehenden Wogen aus der Peripherie des Landes
nach dem Centrum sich bewegte, glaubte man in Stuttgart endlich ohne
Illoyalität auch des Kaisers und Reichs gedenken zu dürfen, und derselbe
Oberbürgermeister von Stuttgart, der kaum zuvor die Kaiseradresse unterdrückt
hatte, glaubte endlich — am 7. März — zum ersten Mal die Zeit gekommen, um
neben dem deutschen Vaterland und den verbündeten Fürsten auch dem
deutschen Kaiser in öffentlicher Festrede sein Heil! zurufen zu dürfen. Wir


Gebote» I. 1871. (.^
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[0517] den ländlichen Gemeinden, durch die kleinlichsten localen Rücksichten bestimmten Gemeinderäthe ad, deren einer vor nicht langer Zeit sogar einem öffentlichen Rechtsanwalt die Verehelichungserlaubniß „wegen mangelnden Nachweises des Nahrungsstandes" versagte. Es ist wohl der sprechendste Beweis für die Verkommenheit der schwäbischen Demokratie, daß diese, die sonst immer für Freiheit und Menschenrechte zu plaidiren sich den Anschein gab und neuestens wieder aus der Ausnahme der Grundrechte in die Reichsverfassung politisches Capital zu machen suchte, sich nicht scheute, die Erbitterung der Dorf¬ magnaten über die Emancipation der arbeitenden Klasse und über die drohende Steigerung der Armenunterhaltungslast noch in der letzten Zeit zur Hetzerei gegen das neue deutsche Reich auszubeuten. — Im Uebrigen wartete man in Schwaben wie bei jeder Gelegenheit so auch bei der Inauguration von Kaiser und Reich anfangs auf die Initiative der Residenz. Hier aber wollte es bei der Zurückhaltung desjenigen großen Theils der Bevölkerung, welcher seinen Enthusiasmus von den Weisungen der regierenden Kreise abhängig zu machen pflegt, zuerst nicht gelingen, eine allgemeine Manifestation der Freude über die endlich errungene deutsche Reichseinheit ins Werk zu setzen. Im Gegen¬ theil war es dem Oberbürgermeister von Stuttgart, dem untrüglichen Baro¬ meter für die in den höheren Regionen jeweilig herrschende Stimmung, mit Aufwendung feines ganzen Einflusses gelungen, die von den bürgerlichen Collegien beabsichtigte Adresse an den deutschen Kaiser zu hintertreiben. Woran der Magistrat zu München — einstimmig — nicht den geringsten Anstand gefunden hatte, das galt jetzt in Stuttgart als ein Majestätsverbrechen. Man sah in jedem unmittelbaren Verkehr der Unterthanen, noch mehr aber der Gemeindebehörden mit dem neuen Reichsoberhaupt einen Verstoß gegen die dem Landesherrn schuldigen Unterthanenpflichten und erklärte namentlich die Schlußformel „allerunterthänigst" in den an den Kaiser gerichteten Adressen als eine mit jenen Pflichten unvereinbare Illoyalität, ja der Servilismus eines Staatsanwalts ging sogar so weit, aus einer solchen öffentlich aufge¬ legten Adresse geradezu die Entfernung jener Schlußformel zu verlangen. Erst als der König selbst sich nach Versailles begab und bei seiner Rück¬ kehr der Jubel über seinen rückhaltsloser, opferbereiten Anschluß an die Sache der Nation und über die durch den ruhmreichen Friedensschluß gesicherte Reichseinheit in immer höher gehenden Wogen aus der Peripherie des Landes nach dem Centrum sich bewegte, glaubte man in Stuttgart endlich ohne Illoyalität auch des Kaisers und Reichs gedenken zu dürfen, und derselbe Oberbürgermeister von Stuttgart, der kaum zuvor die Kaiseradresse unterdrückt hatte, glaubte endlich — am 7. März — zum ersten Mal die Zeit gekommen, um neben dem deutschen Vaterland und den verbündeten Fürsten auch dem deutschen Kaiser in öffentlicher Festrede sein Heil! zurufen zu dürfen. Wir Gebote» I. 1871. (.^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/517>, abgerufen am 23.05.2024.