Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

führen diese Kleinigkeiten nur an, um zu zeigen, mit welchen Schwierig¬
keiten der nationale Gedanke in den tonangebenden Kreisen der Residenz
noch zu kämpfen hat. So leicht man sich dort in die Beschränkung der
wichtigsten Souveränetätsrechte zu finden wußte, so froh man war, der
fortwährenden Streitigkeiten mit der Ständekammer über den Militär¬
etat, der schwierigen Entschließungen in den Fragen der hohen Politik
künftighin enthoben zu sein, und so gerne man in dieser Hinsicht
alle Sorgen dem Reich überließ, so sehr fühlt man sich jetzt andrerseits durch
den Gedanken geängstigt, daß die Neugestaltung des Reichs auch ihre Wir¬
kungen auf die socialen Verhältnisse der bisher in künstlicher Weise zum
Mittelpunkt des Landes hinaufgeschraubten Residenzstadt, namentlich aber
auf das Hofleben äußern könnte. Mit Schmerz sieht man die zunehmende
Gravitation der Geister nach Berlin und je höher die sociale Stellung des
Einzelnen, um so mehr wird ihm das Streben, dort Boden zu gewinnen,
verarge. Man stieß sich daher schon an der bloßen Thatsache, daß ein Fürst
von Hohenlohe, ein Fürst von Waldburg-Zeil, ein Graf Rechberg in den
Wählerversammlungen um ein Mandat in den Reichstag ccmdidirten. Was
sollte auch aus Stuttgart werden, wenn die auswärtige Diplomatie dasselbe
verläßt und der hohe Adel den Schluß der Wintersaison künftighin aus Anlaß des
Reichstags in Berlin anstatt in Stuttgart zubringt? War es doch bisher
nach mehr denn 80jährigen Bemühungen -- zuerst durch eine drakonische
Gesetzgebung, später durch alle Mittel der Courtoisie -- nur zur Noth ge¬
lungen, den durch Napoleon I. der Krone subjictirten ehemaligen Reichsfür¬
sten echte Unterthanengesinnung einzuflößen, und kaum ist die Schöpfung
Napoleons in ihren letzten Consequenzen vernichtet, das Reich rehabilitirt, so
beginnen bereits die "Ebenbürtigen" durch vorbehaltslose Anerkennung des
neuen Rechtszustands für sich eine ihren historischen Reminiscenzen angemesse¬
nere Stellung im Reich zu erstreben. Selbst der ultramontane Erbgraf von
Rechberg führte sich jetzt in den Wahlversammlungen in erster Linie "als
Loyalen deutschen Reichsbürger" ein, betheuerte feierlich "die aufrichtige Treue,
mit welcher er dem deutschen Kaiser huldige" und erklärte in Blaubeuren ge¬
radezu den württembergischen Landtag für einen "Provinziallandtag;" und
doch hatten die Grafen von Rechberg als die Vorkämpfer der großdeut¬
schen Politik im süddeutschen Adel sich in den letzten Jahren einer ganz be¬
sonderen Bevorzugung in Stuttgart zu erfreuen gehabt!

Von diesen Nöthen und Sorgen der Ncsidenzpolitik abgesehen, findet die
Stellung, welche das Ministerium in den letzten Monaten zur deutschen Frage
eingenommen hat. überall ungelenke Anerkennung. Zwar erregte es Anfangs
nicht geringe Mißstimmung, als unmittelbar nach der Vertagung der Stände
das seit dem Abgang Varnbülers erledigte Ministerium der auswärtigen


führen diese Kleinigkeiten nur an, um zu zeigen, mit welchen Schwierig¬
keiten der nationale Gedanke in den tonangebenden Kreisen der Residenz
noch zu kämpfen hat. So leicht man sich dort in die Beschränkung der
wichtigsten Souveränetätsrechte zu finden wußte, so froh man war, der
fortwährenden Streitigkeiten mit der Ständekammer über den Militär¬
etat, der schwierigen Entschließungen in den Fragen der hohen Politik
künftighin enthoben zu sein, und so gerne man in dieser Hinsicht
alle Sorgen dem Reich überließ, so sehr fühlt man sich jetzt andrerseits durch
den Gedanken geängstigt, daß die Neugestaltung des Reichs auch ihre Wir¬
kungen auf die socialen Verhältnisse der bisher in künstlicher Weise zum
Mittelpunkt des Landes hinaufgeschraubten Residenzstadt, namentlich aber
auf das Hofleben äußern könnte. Mit Schmerz sieht man die zunehmende
Gravitation der Geister nach Berlin und je höher die sociale Stellung des
Einzelnen, um so mehr wird ihm das Streben, dort Boden zu gewinnen,
verarge. Man stieß sich daher schon an der bloßen Thatsache, daß ein Fürst
von Hohenlohe, ein Fürst von Waldburg-Zeil, ein Graf Rechberg in den
Wählerversammlungen um ein Mandat in den Reichstag ccmdidirten. Was
sollte auch aus Stuttgart werden, wenn die auswärtige Diplomatie dasselbe
verläßt und der hohe Adel den Schluß der Wintersaison künftighin aus Anlaß des
Reichstags in Berlin anstatt in Stuttgart zubringt? War es doch bisher
nach mehr denn 80jährigen Bemühungen — zuerst durch eine drakonische
Gesetzgebung, später durch alle Mittel der Courtoisie — nur zur Noth ge¬
lungen, den durch Napoleon I. der Krone subjictirten ehemaligen Reichsfür¬
sten echte Unterthanengesinnung einzuflößen, und kaum ist die Schöpfung
Napoleons in ihren letzten Consequenzen vernichtet, das Reich rehabilitirt, so
beginnen bereits die „Ebenbürtigen" durch vorbehaltslose Anerkennung des
neuen Rechtszustands für sich eine ihren historischen Reminiscenzen angemesse¬
nere Stellung im Reich zu erstreben. Selbst der ultramontane Erbgraf von
Rechberg führte sich jetzt in den Wahlversammlungen in erster Linie „als
Loyalen deutschen Reichsbürger" ein, betheuerte feierlich „die aufrichtige Treue,
mit welcher er dem deutschen Kaiser huldige" und erklärte in Blaubeuren ge¬
radezu den württembergischen Landtag für einen „Provinziallandtag;" und
doch hatten die Grafen von Rechberg als die Vorkämpfer der großdeut¬
schen Politik im süddeutschen Adel sich in den letzten Jahren einer ganz be¬
sonderen Bevorzugung in Stuttgart zu erfreuen gehabt!

Von diesen Nöthen und Sorgen der Ncsidenzpolitik abgesehen, findet die
Stellung, welche das Ministerium in den letzten Monaten zur deutschen Frage
eingenommen hat. überall ungelenke Anerkennung. Zwar erregte es Anfangs
nicht geringe Mißstimmung, als unmittelbar nach der Vertagung der Stände
das seit dem Abgang Varnbülers erledigte Ministerium der auswärtigen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0518" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/125762"/>
          <p xml:id="ID_1686" prev="#ID_1685"> führen diese Kleinigkeiten nur an, um zu zeigen, mit welchen Schwierig¬<lb/>
keiten der nationale Gedanke in den tonangebenden Kreisen der Residenz<lb/>
noch zu kämpfen hat. So leicht man sich dort in die Beschränkung der<lb/>
wichtigsten Souveränetätsrechte zu finden wußte, so froh man war, der<lb/>
fortwährenden Streitigkeiten mit der Ständekammer über den Militär¬<lb/>
etat, der schwierigen Entschließungen in den Fragen der hohen Politik<lb/>
künftighin enthoben zu sein, und so gerne man in dieser Hinsicht<lb/>
alle Sorgen dem Reich überließ, so sehr fühlt man sich jetzt andrerseits durch<lb/>
den Gedanken geängstigt, daß die Neugestaltung des Reichs auch ihre Wir¬<lb/>
kungen auf die socialen Verhältnisse der bisher in künstlicher Weise zum<lb/>
Mittelpunkt des Landes hinaufgeschraubten Residenzstadt, namentlich aber<lb/>
auf das Hofleben äußern könnte. Mit Schmerz sieht man die zunehmende<lb/>
Gravitation der Geister nach Berlin und je höher die sociale Stellung des<lb/>
Einzelnen, um so mehr wird ihm das Streben, dort Boden zu gewinnen,<lb/>
verarge. Man stieß sich daher schon an der bloßen Thatsache, daß ein Fürst<lb/>
von Hohenlohe, ein Fürst von Waldburg-Zeil, ein Graf Rechberg in den<lb/>
Wählerversammlungen um ein Mandat in den Reichstag ccmdidirten. Was<lb/>
sollte auch aus Stuttgart werden, wenn die auswärtige Diplomatie dasselbe<lb/>
verläßt und der hohe Adel den Schluß der Wintersaison künftighin aus Anlaß des<lb/>
Reichstags in Berlin anstatt in Stuttgart zubringt? War es doch bisher<lb/>
nach mehr denn 80jährigen Bemühungen &#x2014; zuerst durch eine drakonische<lb/>
Gesetzgebung, später durch alle Mittel der Courtoisie &#x2014; nur zur Noth ge¬<lb/>
lungen, den durch Napoleon I. der Krone subjictirten ehemaligen Reichsfür¬<lb/>
sten echte Unterthanengesinnung einzuflößen, und kaum ist die Schöpfung<lb/>
Napoleons in ihren letzten Consequenzen vernichtet, das Reich rehabilitirt, so<lb/>
beginnen bereits die &#x201E;Ebenbürtigen" durch vorbehaltslose Anerkennung des<lb/>
neuen Rechtszustands für sich eine ihren historischen Reminiscenzen angemesse¬<lb/>
nere Stellung im Reich zu erstreben. Selbst der ultramontane Erbgraf von<lb/>
Rechberg führte sich jetzt in den Wahlversammlungen in erster Linie &#x201E;als<lb/>
Loyalen deutschen Reichsbürger" ein, betheuerte feierlich &#x201E;die aufrichtige Treue,<lb/>
mit welcher er dem deutschen Kaiser huldige" und erklärte in Blaubeuren ge¬<lb/>
radezu den württembergischen Landtag für einen &#x201E;Provinziallandtag;" und<lb/>
doch hatten die Grafen von Rechberg als die Vorkämpfer der großdeut¬<lb/>
schen Politik im süddeutschen Adel sich in den letzten Jahren einer ganz be¬<lb/>
sonderen Bevorzugung in Stuttgart zu erfreuen gehabt!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1687" next="#ID_1688"> Von diesen Nöthen und Sorgen der Ncsidenzpolitik abgesehen, findet die<lb/>
Stellung, welche das Ministerium in den letzten Monaten zur deutschen Frage<lb/>
eingenommen hat. überall ungelenke Anerkennung. Zwar erregte es Anfangs<lb/>
nicht geringe Mißstimmung, als unmittelbar nach der Vertagung der Stände<lb/>
das seit dem Abgang Varnbülers erledigte Ministerium der auswärtigen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0518] führen diese Kleinigkeiten nur an, um zu zeigen, mit welchen Schwierig¬ keiten der nationale Gedanke in den tonangebenden Kreisen der Residenz noch zu kämpfen hat. So leicht man sich dort in die Beschränkung der wichtigsten Souveränetätsrechte zu finden wußte, so froh man war, der fortwährenden Streitigkeiten mit der Ständekammer über den Militär¬ etat, der schwierigen Entschließungen in den Fragen der hohen Politik künftighin enthoben zu sein, und so gerne man in dieser Hinsicht alle Sorgen dem Reich überließ, so sehr fühlt man sich jetzt andrerseits durch den Gedanken geängstigt, daß die Neugestaltung des Reichs auch ihre Wir¬ kungen auf die socialen Verhältnisse der bisher in künstlicher Weise zum Mittelpunkt des Landes hinaufgeschraubten Residenzstadt, namentlich aber auf das Hofleben äußern könnte. Mit Schmerz sieht man die zunehmende Gravitation der Geister nach Berlin und je höher die sociale Stellung des Einzelnen, um so mehr wird ihm das Streben, dort Boden zu gewinnen, verarge. Man stieß sich daher schon an der bloßen Thatsache, daß ein Fürst von Hohenlohe, ein Fürst von Waldburg-Zeil, ein Graf Rechberg in den Wählerversammlungen um ein Mandat in den Reichstag ccmdidirten. Was sollte auch aus Stuttgart werden, wenn die auswärtige Diplomatie dasselbe verläßt und der hohe Adel den Schluß der Wintersaison künftighin aus Anlaß des Reichstags in Berlin anstatt in Stuttgart zubringt? War es doch bisher nach mehr denn 80jährigen Bemühungen — zuerst durch eine drakonische Gesetzgebung, später durch alle Mittel der Courtoisie — nur zur Noth ge¬ lungen, den durch Napoleon I. der Krone subjictirten ehemaligen Reichsfür¬ sten echte Unterthanengesinnung einzuflößen, und kaum ist die Schöpfung Napoleons in ihren letzten Consequenzen vernichtet, das Reich rehabilitirt, so beginnen bereits die „Ebenbürtigen" durch vorbehaltslose Anerkennung des neuen Rechtszustands für sich eine ihren historischen Reminiscenzen angemesse¬ nere Stellung im Reich zu erstreben. Selbst der ultramontane Erbgraf von Rechberg führte sich jetzt in den Wahlversammlungen in erster Linie „als Loyalen deutschen Reichsbürger" ein, betheuerte feierlich „die aufrichtige Treue, mit welcher er dem deutschen Kaiser huldige" und erklärte in Blaubeuren ge¬ radezu den württembergischen Landtag für einen „Provinziallandtag;" und doch hatten die Grafen von Rechberg als die Vorkämpfer der großdeut¬ schen Politik im süddeutschen Adel sich in den letzten Jahren einer ganz be¬ sonderen Bevorzugung in Stuttgart zu erfreuen gehabt! Von diesen Nöthen und Sorgen der Ncsidenzpolitik abgesehen, findet die Stellung, welche das Ministerium in den letzten Monaten zur deutschen Frage eingenommen hat. überall ungelenke Anerkennung. Zwar erregte es Anfangs nicht geringe Mißstimmung, als unmittelbar nach der Vertagung der Stände das seit dem Abgang Varnbülers erledigte Ministerium der auswärtigen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/518
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/518>, abgerufen am 18.06.2024.