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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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nicht ein, wenn der Canton keine Macht hat? Du erlaubst wohl, alter
Freund, daß ich so dreiste Fragen mit der officiellen Sammlung der schweize¬
rischen Bundes- und Cantonsverfassungen in der Hand statt Deiner zurück¬
weise. Der Bundesrath, d. h. die oberste vollziehende Behörde der Eidgenossen¬
schaft -- unser Bundespräsidium und Reichskanzleramt -- hat allerdings
"für die Garantie der Cantonalverfassungen zu wachen," und "für die innere
Sicherheit der Eidgenossenschaft, für Handhabung von Ruhe und Ordnung
zu sorgen." Er darf sogar "in Fällen von Dringlichkeit die erforderliche
Truppenzahl aufbieten" -- ja, man denke! -- "über solche verfügen." Er
hat im vorliegenden Falle auch von dieser habenden Macht Gebrauch gemacht,
indem er den eidgenössischen Commissär I)r. Heer und einige cantonsfremde
Bataillone in die gute Stadt Zürich einrücken ließ. Aber nach wenigen Tagen
schon fanden diese in Zürich alles normal und verfassungsmäßig und zogen
sich schleunigst mit höflichen Entschuldigungen zurück. Der Cantonalrath er¬
hob sich einmüthig von seinen Sitzen, nachdem Herr Sulzer den Deutschenhaß
für berechtigt erklärt hatte -- damit war die Ruhe wieder hergestellt. In Basel
erklärt Herr Stähelin die Deutschen für den Deutschenhaß der Basler verant¬
wortlich; damit war verfassungsmäßig die Bundesintervention von vorne
herein ausgeschlossen. Daß in Basel, Zürich und Genf thatsächlich der Pöbel
die Väter der Stadt lahm gelegt hat, wie diese selbst rührend eingestehen, ge¬
fährdet "die innere Sicherheit der Eidgenossenschaft" keineswegs, bedroht durch¬
aus nicht die "Handhabung von Ruhe und Ordnung." Eine Bundesinter¬
vention gegen so wohlgeordnete Cantone und Culturstaaten wäre ein offener
Bruch des Schweizer Verfassungsrechts, der mit der äußersten Entrüstung des
einmüthig erhobenen Züricher Cantonalraths und des Vater Stähelin in
Basel zurückgewiesen werden würde. Diese Entrüstung würde sich nur in
dem Falle noch steigern können, wenn der Bundesrath sich etwa erdreisten
wollte, die resp. Staatsanwälte der ochlokratisirten Cantone höflich einzuladen,
ihre Pflicht zu thun, vielleicht sogar die unthätigen Milizen vor ein Kriegs¬
gericht zu stellen. Das wäre ein brutaler Uebergriff in die eantonale Selbst¬
herrlichkeit der "Rechtspflege," welchen der ruhigste Staatsanwalt etwa mit
folgender Abwehr zurückweisen würde:

"Dem Tit. Bundesrath kann nicht unbekannt sein, daß wir Eidgenossen uns
längst von den thörichten Vorurtheilen emancipirt haben, welche die sog. gebildete
Welt über die Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit des Richter¬
standes und die Einheit und Gleichmäßigkeit der Rechtspflege anerkennt. Wir
befleißigen uns vielmehr in der Schweiz einer höchst ungleichmäßigen und uneinigen
Rechtspflege. Jeder Canton -- wovon der größte etwa S00.000, der kleinste 15,000
Seelen beherbergt -- hat sein eigenes Civil- und Criminalrecht, seinen eigenen
Civil- und Criminalproceß, seine eigenen Richter für ganze zwei Instanzen!


nicht ein, wenn der Canton keine Macht hat? Du erlaubst wohl, alter
Freund, daß ich so dreiste Fragen mit der officiellen Sammlung der schweize¬
rischen Bundes- und Cantonsverfassungen in der Hand statt Deiner zurück¬
weise. Der Bundesrath, d. h. die oberste vollziehende Behörde der Eidgenossen¬
schaft — unser Bundespräsidium und Reichskanzleramt — hat allerdings
„für die Garantie der Cantonalverfassungen zu wachen," und „für die innere
Sicherheit der Eidgenossenschaft, für Handhabung von Ruhe und Ordnung
zu sorgen." Er darf sogar „in Fällen von Dringlichkeit die erforderliche
Truppenzahl aufbieten" — ja, man denke! — „über solche verfügen." Er
hat im vorliegenden Falle auch von dieser habenden Macht Gebrauch gemacht,
indem er den eidgenössischen Commissär I)r. Heer und einige cantonsfremde
Bataillone in die gute Stadt Zürich einrücken ließ. Aber nach wenigen Tagen
schon fanden diese in Zürich alles normal und verfassungsmäßig und zogen
sich schleunigst mit höflichen Entschuldigungen zurück. Der Cantonalrath er¬
hob sich einmüthig von seinen Sitzen, nachdem Herr Sulzer den Deutschenhaß
für berechtigt erklärt hatte — damit war die Ruhe wieder hergestellt. In Basel
erklärt Herr Stähelin die Deutschen für den Deutschenhaß der Basler verant¬
wortlich; damit war verfassungsmäßig die Bundesintervention von vorne
herein ausgeschlossen. Daß in Basel, Zürich und Genf thatsächlich der Pöbel
die Väter der Stadt lahm gelegt hat, wie diese selbst rührend eingestehen, ge¬
fährdet „die innere Sicherheit der Eidgenossenschaft" keineswegs, bedroht durch¬
aus nicht die „Handhabung von Ruhe und Ordnung." Eine Bundesinter¬
vention gegen so wohlgeordnete Cantone und Culturstaaten wäre ein offener
Bruch des Schweizer Verfassungsrechts, der mit der äußersten Entrüstung des
einmüthig erhobenen Züricher Cantonalraths und des Vater Stähelin in
Basel zurückgewiesen werden würde. Diese Entrüstung würde sich nur in
dem Falle noch steigern können, wenn der Bundesrath sich etwa erdreisten
wollte, die resp. Staatsanwälte der ochlokratisirten Cantone höflich einzuladen,
ihre Pflicht zu thun, vielleicht sogar die unthätigen Milizen vor ein Kriegs¬
gericht zu stellen. Das wäre ein brutaler Uebergriff in die eantonale Selbst¬
herrlichkeit der „Rechtspflege," welchen der ruhigste Staatsanwalt etwa mit
folgender Abwehr zurückweisen würde:

„Dem Tit. Bundesrath kann nicht unbekannt sein, daß wir Eidgenossen uns
längst von den thörichten Vorurtheilen emancipirt haben, welche die sog. gebildete
Welt über die Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit des Richter¬
standes und die Einheit und Gleichmäßigkeit der Rechtspflege anerkennt. Wir
befleißigen uns vielmehr in der Schweiz einer höchst ungleichmäßigen und uneinigen
Rechtspflege. Jeder Canton — wovon der größte etwa S00.000, der kleinste 15,000
Seelen beherbergt — hat sein eigenes Civil- und Criminalrecht, seinen eigenen
Civil- und Criminalproceß, seine eigenen Richter für ganze zwei Instanzen!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/80>, abgerufen am 14.06.2024.