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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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stehen mag -- wir wissen ja sicher, daß erst 962 vom römischen Papste Otto
die Kaiserkrone erhalten -- über die Auffassung der Deutschen jener Zeit er¬
halten wir durch Widukind einen brauchbaren Aufschluß. Aus den militärischen
Verdiensten Otto's um Deutschland ist das Kaiserthum entsprungen; die Ver¬
theidiger des deutschen Landes haben ihn mit der Kaiserwürde zu schmücken
verlangt.

Und das Kaiserthum unseres siegreichen Königs verdankt Aehnlichem
seinen Ursprung. Nachdem der äußere Feind in siegreichen Schlachten nieder¬
geworfen und der Preis der Siege endgültig gesichert war, da fand inmitten
der deutschen Krieger, vom jauchzenden Zurufe des glorreichen Heeres begleitet,
in Versailles die Verkündigung der neuen Würde statt.

Auf dem Schlachtfelde gegen die Ungarn hat Otto I., und auf dem
Schlachtfelde gegen die Franzosen hat Wilhelm I, sich die Kaiserkrone er¬
worben. Anlaß und Hergang zeigen im 10. und im 19. Jahrhundert ver¬
wandte und übereinstimmende Züge./

Ist das Wesen der Sache dasselbe? Bedeutet die Kaiserkrone für
Wilhelm I. dasselbe wie für Otto I.?

Das ist die Frage, die ich einer näheren Erörterung an dem heutigen
Festtage unterziehen möchte. Den Charakter und die Tendenzen des deutschen
Kaiserthums im Mittelalter möchte ich versuchen in aller Kürze darzulegen,
und den Gegensatz des heutigen Kaiserthums und zugleich die Beziehungen des
neuen Reiches zu jenen vergangenen Einrichtungen zu zeigen.

Die Geschichte unserer deutschen Kaiserzeit im Mittelalter ist neuerdings
vielfach studirt, erforscht und dargestellt worden. Bedeutung und Werth jener
Periode ist von verschiedenen Historikern verschieden beurtheilt worden. Zu
den lebhaftesten Erörterungen, zu heftigen Controversen hat das Urtheil
Heinrichs von Sybel*) Anlaß gegeben, das 1859 scharf formulirt und
1862 eingehender begründet worden ist. Shbel legte an die Erscheinungen
jener Zeit den nationalen Maßstab an - den Werth des Kaiserthums wollte
er beurtheilen nach dem Nutzen, den es der deutschen Nation gebracht oder
zu bringen sich vorgesetzt hatte. Das Resultat seiner Kritik war für die
übliche Auffassung und Darstellung, die mit Bewunderung und Glanz die
Thaten der Kaiser zu erzählen pflegte, vernichtend; der antinationale Zug und
die verderblichen Folgen der Kaiserbestrebungen waren noch niemals so nach¬
drücklich betont und mit so überwältigender Deutlichkeit aufgezeigt worden.
Zustimmung und Widerspruch stellten reichlich sich ein. In ausführlicher
und gelehrter Untersuchung meinte Fick er**) die universalen und die nationalen




-) Ueber die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit. 1859. Die deutsche Nation
und das Kaiserreich. 18V2.
Das deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen. 1861.
Deutsches Königthum und Kaiserthum. 18K2.

stehen mag — wir wissen ja sicher, daß erst 962 vom römischen Papste Otto
die Kaiserkrone erhalten — über die Auffassung der Deutschen jener Zeit er¬
halten wir durch Widukind einen brauchbaren Aufschluß. Aus den militärischen
Verdiensten Otto's um Deutschland ist das Kaiserthum entsprungen; die Ver¬
theidiger des deutschen Landes haben ihn mit der Kaiserwürde zu schmücken
verlangt.

Und das Kaiserthum unseres siegreichen Königs verdankt Aehnlichem
seinen Ursprung. Nachdem der äußere Feind in siegreichen Schlachten nieder¬
geworfen und der Preis der Siege endgültig gesichert war, da fand inmitten
der deutschen Krieger, vom jauchzenden Zurufe des glorreichen Heeres begleitet,
in Versailles die Verkündigung der neuen Würde statt.

Auf dem Schlachtfelde gegen die Ungarn hat Otto I., und auf dem
Schlachtfelde gegen die Franzosen hat Wilhelm I, sich die Kaiserkrone er¬
worben. Anlaß und Hergang zeigen im 10. und im 19. Jahrhundert ver¬
wandte und übereinstimmende Züge./

Ist das Wesen der Sache dasselbe? Bedeutet die Kaiserkrone für
Wilhelm I. dasselbe wie für Otto I.?

Das ist die Frage, die ich einer näheren Erörterung an dem heutigen
Festtage unterziehen möchte. Den Charakter und die Tendenzen des deutschen
Kaiserthums im Mittelalter möchte ich versuchen in aller Kürze darzulegen,
und den Gegensatz des heutigen Kaiserthums und zugleich die Beziehungen des
neuen Reiches zu jenen vergangenen Einrichtungen zu zeigen.

Die Geschichte unserer deutschen Kaiserzeit im Mittelalter ist neuerdings
vielfach studirt, erforscht und dargestellt worden. Bedeutung und Werth jener
Periode ist von verschiedenen Historikern verschieden beurtheilt worden. Zu
den lebhaftesten Erörterungen, zu heftigen Controversen hat das Urtheil
Heinrichs von Sybel*) Anlaß gegeben, das 1859 scharf formulirt und
1862 eingehender begründet worden ist. Shbel legte an die Erscheinungen
jener Zeit den nationalen Maßstab an - den Werth des Kaiserthums wollte
er beurtheilen nach dem Nutzen, den es der deutschen Nation gebracht oder
zu bringen sich vorgesetzt hatte. Das Resultat seiner Kritik war für die
übliche Auffassung und Darstellung, die mit Bewunderung und Glanz die
Thaten der Kaiser zu erzählen pflegte, vernichtend; der antinationale Zug und
die verderblichen Folgen der Kaiserbestrebungen waren noch niemals so nach¬
drücklich betont und mit so überwältigender Deutlichkeit aufgezeigt worden.
Zustimmung und Widerspruch stellten reichlich sich ein. In ausführlicher
und gelehrter Untersuchung meinte Fick er**) die universalen und die nationalen




-) Ueber die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit. 1859. Die deutsche Nation
und das Kaiserreich. 18V2.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/92>, abgerufen am 14.06.2024.