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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band.

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aber keineswegs die Besorgnisse der besitzenden und aus Furcht im konserva¬
tiven Fahrwasser segelnden Classen, die sich mehr und mehr von der Republik
abwandten und an eine monarchische Restauration dachten, weil sie nur von
der Monarchie einen nachhaltigen Schutz gegen die Anarchie erwarteten. Aber
wer sollte der neue Monarch sein? Kaum wurde die dynastische Frage berührt,
so machte der Gegensatz zwischen den Legitimisten und Orleanisten wieder sein
Recht geltend. Auch würden sie selbst, wenn ihnen gelungen wäre, sich
unter einander zu verständigen, doch nicht im Stande gewesen sein, das Mi߬
trauen, das damals gegen die sämmtlichen Zweige der alten Königsfamilie
herrschte, zu überwinden: ein Mißtrauen, dem selbst aufrichtige Anhänger des
monarchischen Princips sich nicht zu entziehen vermochten, weil sie sich nicht
verhehlen konnten, daß eine restaurirte Monarchie immer der Gefahr ausge¬
setzt ist, haltlos zwischen Schwäche und Gewaltsamkeit, zwischen Popularitäts¬
haschen und sehnsuchtsvollen Rückblick nach abgelebten Zuständen, hin und
her zu schwanken. Die Restauration ist nun einmal unter allen Umständen
ein unsicheres und gefährliches politisches Experiment.

Die Parteien, die seit 1815 über die Geschicke Frankreichs entschieden
hatten, waren völlig unfähig, auf die Massen Einfluß auszuüben. Aber auch
die gemäßigten Republikaner waren rasch verbraucht. Bon den Conservativen
vorgeschoben, wo es galt, die revolutionäre Bevölkerung der Hauptstadt in
Zaum zu halten, hatten sie sich gründlich überwürfen mit den rothen Repu¬
blikanern, deren Mitwirkung sie doch bei den unvermeidlichen, in Aussicht
stehenden Kämpfen gegen die Reaction schlechterdings nicht entbehren konnten.
So schrumpften sie, gerade wie die Anhänger der Monarchie, zu einer parla¬
mentarischen Partei zusammen, während die große Masse des Volkes von
ganz andern Führern gelenkt wurde. In Paris und überhaupt in den
großen Städten beherrschten, wie schon bemerkt, die Socialisten die Masse,
auf dem Lande der immer kecker sich vordrängende Bonapartismus im Verein
mit der Geistlichkeit, die grade dann in Frankreich den kräftigsten Aufschwung
zu nehmen pflegt, wenn die öffentliche Meinung sich einbildet, sie für immer
zu den Todten geworfen und eingesargt zu haben. In Wahrheit hat die
Geistlichkeit ihren Einfluß auf einen großen Theil des Volkes niemals ganz
verloren. Während der Restauration hatte sie mit glühendem Eifer die Sache
der legitimen Monarchie vertreten; sie hatte mit Leidenschaft die Identität
der katholischen und monarchischen Interessen, die Solidarität von Thron
und Altar verfochten; sie und ihre weltlichen Parteigänger hatten die Reaction
gegen das revolutionäre Princip, unter welchem Namen man die Gesammt-
bildung der Gegenwart verstand, in ein mit äußerster Consequenz durchge¬
arbeitetes System zusammengefaßt. Selbst der in kirchlichen Dingen sehr
unbefangene, bei den Strenggläubigen als Voltairianer verrufene Ludwig XVIII.


aber keineswegs die Besorgnisse der besitzenden und aus Furcht im konserva¬
tiven Fahrwasser segelnden Classen, die sich mehr und mehr von der Republik
abwandten und an eine monarchische Restauration dachten, weil sie nur von
der Monarchie einen nachhaltigen Schutz gegen die Anarchie erwarteten. Aber
wer sollte der neue Monarch sein? Kaum wurde die dynastische Frage berührt,
so machte der Gegensatz zwischen den Legitimisten und Orleanisten wieder sein
Recht geltend. Auch würden sie selbst, wenn ihnen gelungen wäre, sich
unter einander zu verständigen, doch nicht im Stande gewesen sein, das Mi߬
trauen, das damals gegen die sämmtlichen Zweige der alten Königsfamilie
herrschte, zu überwinden: ein Mißtrauen, dem selbst aufrichtige Anhänger des
monarchischen Princips sich nicht zu entziehen vermochten, weil sie sich nicht
verhehlen konnten, daß eine restaurirte Monarchie immer der Gefahr ausge¬
setzt ist, haltlos zwischen Schwäche und Gewaltsamkeit, zwischen Popularitäts¬
haschen und sehnsuchtsvollen Rückblick nach abgelebten Zuständen, hin und
her zu schwanken. Die Restauration ist nun einmal unter allen Umständen
ein unsicheres und gefährliches politisches Experiment.

Die Parteien, die seit 1815 über die Geschicke Frankreichs entschieden
hatten, waren völlig unfähig, auf die Massen Einfluß auszuüben. Aber auch
die gemäßigten Republikaner waren rasch verbraucht. Bon den Conservativen
vorgeschoben, wo es galt, die revolutionäre Bevölkerung der Hauptstadt in
Zaum zu halten, hatten sie sich gründlich überwürfen mit den rothen Repu¬
blikanern, deren Mitwirkung sie doch bei den unvermeidlichen, in Aussicht
stehenden Kämpfen gegen die Reaction schlechterdings nicht entbehren konnten.
So schrumpften sie, gerade wie die Anhänger der Monarchie, zu einer parla¬
mentarischen Partei zusammen, während die große Masse des Volkes von
ganz andern Führern gelenkt wurde. In Paris und überhaupt in den
großen Städten beherrschten, wie schon bemerkt, die Socialisten die Masse,
auf dem Lande der immer kecker sich vordrängende Bonapartismus im Verein
mit der Geistlichkeit, die grade dann in Frankreich den kräftigsten Aufschwung
zu nehmen pflegt, wenn die öffentliche Meinung sich einbildet, sie für immer
zu den Todten geworfen und eingesargt zu haben. In Wahrheit hat die
Geistlichkeit ihren Einfluß auf einen großen Theil des Volkes niemals ganz
verloren. Während der Restauration hatte sie mit glühendem Eifer die Sache
der legitimen Monarchie vertreten; sie hatte mit Leidenschaft die Identität
der katholischen und monarchischen Interessen, die Solidarität von Thron
und Altar verfochten; sie und ihre weltlichen Parteigänger hatten die Reaction
gegen das revolutionäre Princip, unter welchem Namen man die Gesammt-
bildung der Gegenwart verstand, in ein mit äußerster Consequenz durchge¬
arbeitetes System zusammengefaßt. Selbst der in kirchlichen Dingen sehr
unbefangene, bei den Strenggläubigen als Voltairianer verrufene Ludwig XVIII.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_126315/331>, abgerufen am 16.06.2024.