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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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widmet, so umfaßt der zweite in fast doppeltem Umfange die ganze Neuzeit
d. h. die Literatur vom Ende des 16. bis in unser 19. Jahrhundert. War
der eigentliche Fruchtboden der mittelalterlichen Literatur in Flandern und
Brabant, also in Südniederland gelegen, so finden wir ihn seit der Neuzeit
fast ausschließlich im Norden, in den vereinigten Staaten, und vorzugsweise
in dem führenden Staate, Holland. Deshalb ist auch die bei uns -- und
anderwärts, selbst an Ort und Stelle -- gewöhnliche Bezeichnung "hollän¬
dische Sprache und Literatur" -- nicht so entschieden zu verwerfen, wie es die
gelehrten und patriotischen Niederländer selbst zu thun pflegen und wie wir
es hier pflichtschuldigst nachthun zu müssen glauben, um wissenschaftlich
correct uns auszudrücken. Der eigentlich holländische Typus, der im Mittel¬
alter kaum merkbar hervortrat, gerade so wie Holland in der Politik, im
Handel und im Gewerbe gegen Flandern und Brabant, ja selbst gegen die
benachbarten Landschaften von Utrecht, Geldern und Friesland damals so sehr
zurückstand, gereicht der neueren niederländischen Literatur, wenn man unbe-
fangen urtheilt, gerade zum besondern Bortheil. Denn so wenig wir diesem Volks¬
geist, wie irgend einem anderen, eine bestimmte poetische Anlage ganz ab¬
sprechen können, so ist doch zwischen ihr und ihrer wirksamen Darstellung als
poetische Kunst noch ein weiter Zwischenraum. Es scheint, als habe der hol¬
ländische Sprachgeist nicht die Fähigkeit besessen, ihn durch eine auch objectiv
gültige, und insofern classisch zu nennende Gestaltung seiner Formen auszu¬
füllen. Denn die holländische Sprache ist trotz ihrer innigsten Verwandtschaft
mit den niederrheinischen, jetzt zur bloßen Volksmundart herabgesunkenen
Idiomen, sowie trotz ihrer unmittelbaren Herkunft aus dem sogenannten
mittelniederländischen, also trotz ihrer nächsten Berührung mit zwei für poe¬
tische Darstellung sehr glücklich angelegten Sprachmassen, doch das allerun-
passendste Organ für den poetischen Ausdruck, das man sich denken kann. Sie
steckt viel zu fest in der Schablone eines durch und durch prosaischen und
pedantischen Satzbaues und einer nicht weniger prosaischen Auffassung der
Wortbedeutungen. Auch unsere eigene neuere Sprache leidet an diesen Män¬
geln, aber theils ist es die unvergleichliche Genialität unserer größten Dichter
gewesen, die sie zu überwinden verstand, theils hat sich daneben noch, gleich¬
sam als nicht officielle Sprache, der Ausdruck des gewöhnlichen Lebens, nicht
bloß wo er zur eigentlichen Mundart gehört, sehr viel frische Originalität be¬
wahrt, die dann wieder in der rechten Hand der Poesie, aber auch der Prosa
zu Gute kommt.

Begreiflich werden die Holländer selbst dieß und anderes nicht zugeben.
Sie sind in selbstgenügsamen Stolz mit ihren Hooft, Cats, Vorbei aus
dem 16. Jahrhundert und ihrem Bilder Dijk aus dem 19. vollkommen zu-,
frieden und des Glaubens, daß ihre Poesie mindestens ebenso werthvoll wie


widmet, so umfaßt der zweite in fast doppeltem Umfange die ganze Neuzeit
d. h. die Literatur vom Ende des 16. bis in unser 19. Jahrhundert. War
der eigentliche Fruchtboden der mittelalterlichen Literatur in Flandern und
Brabant, also in Südniederland gelegen, so finden wir ihn seit der Neuzeit
fast ausschließlich im Norden, in den vereinigten Staaten, und vorzugsweise
in dem führenden Staate, Holland. Deshalb ist auch die bei uns — und
anderwärts, selbst an Ort und Stelle — gewöhnliche Bezeichnung „hollän¬
dische Sprache und Literatur" — nicht so entschieden zu verwerfen, wie es die
gelehrten und patriotischen Niederländer selbst zu thun pflegen und wie wir
es hier pflichtschuldigst nachthun zu müssen glauben, um wissenschaftlich
correct uns auszudrücken. Der eigentlich holländische Typus, der im Mittel¬
alter kaum merkbar hervortrat, gerade so wie Holland in der Politik, im
Handel und im Gewerbe gegen Flandern und Brabant, ja selbst gegen die
benachbarten Landschaften von Utrecht, Geldern und Friesland damals so sehr
zurückstand, gereicht der neueren niederländischen Literatur, wenn man unbe-
fangen urtheilt, gerade zum besondern Bortheil. Denn so wenig wir diesem Volks¬
geist, wie irgend einem anderen, eine bestimmte poetische Anlage ganz ab¬
sprechen können, so ist doch zwischen ihr und ihrer wirksamen Darstellung als
poetische Kunst noch ein weiter Zwischenraum. Es scheint, als habe der hol¬
ländische Sprachgeist nicht die Fähigkeit besessen, ihn durch eine auch objectiv
gültige, und insofern classisch zu nennende Gestaltung seiner Formen auszu¬
füllen. Denn die holländische Sprache ist trotz ihrer innigsten Verwandtschaft
mit den niederrheinischen, jetzt zur bloßen Volksmundart herabgesunkenen
Idiomen, sowie trotz ihrer unmittelbaren Herkunft aus dem sogenannten
mittelniederländischen, also trotz ihrer nächsten Berührung mit zwei für poe¬
tische Darstellung sehr glücklich angelegten Sprachmassen, doch das allerun-
passendste Organ für den poetischen Ausdruck, das man sich denken kann. Sie
steckt viel zu fest in der Schablone eines durch und durch prosaischen und
pedantischen Satzbaues und einer nicht weniger prosaischen Auffassung der
Wortbedeutungen. Auch unsere eigene neuere Sprache leidet an diesen Män¬
geln, aber theils ist es die unvergleichliche Genialität unserer größten Dichter
gewesen, die sie zu überwinden verstand, theils hat sich daneben noch, gleich¬
sam als nicht officielle Sprache, der Ausdruck des gewöhnlichen Lebens, nicht
bloß wo er zur eigentlichen Mundart gehört, sehr viel frische Originalität be¬
wahrt, die dann wieder in der rechten Hand der Poesie, aber auch der Prosa
zu Gute kommt.

Begreiflich werden die Holländer selbst dieß und anderes nicht zugeben.
Sie sind in selbstgenügsamen Stolz mit ihren Hooft, Cats, Vorbei aus
dem 16. Jahrhundert und ihrem Bilder Dijk aus dem 19. vollkommen zu-,
frieden und des Glaubens, daß ihre Poesie mindestens ebenso werthvoll wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/45>, abgerufen am 24.05.2024.