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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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welche den untrennbaren und gleichwohl getrennt vorliegenden Bestandtheil
eines Werkes ausmacht, das wir eben erst bei dem Bühnenfest selbst als
Ganzes kennen zu lernen erwarten dürfen -- verschaffen der Dichtung
also in diesen Tagen zunehmende Aufmerksamkeit auch außerhalb der Wagner¬
gemeinde.

Für den eigensinnigen Zahlenmenschen, den die "Grenzboten" sich zum
Mitarbeiter im Kunstfach erkoren haben, wäre jene allgemein werdende Auf¬
merksamkeit vielleicht kein Grund geworden, die Bekanntschaft des Bühnenfest-
spiels zu machen. Aber er hat sie gemacht, das heißt die Bekanntschaft der
Dichtung zu dem Bühnenfestspiel , und den Eindruck eines hochpoetischen und
hochdramatischen Werkes empfangen. Unter diesen Umständen benutzt er die
Aufmerksamkeit, welche dem Werke jetzt entgegenkommt, bei den Lesern der
"Grenzboten" als Freibrief für die Darlegung eines persönlichen Eindrucks.

Es gehört eine entschlossene Beschränkung dazu, dabei nicht weitläufig zu
werden. Von einem Werke Wagner's zu sprechen, ist in der That kaum
möglich ohne Zustimmung oder Ablehnung zu dem kunstreformatorischen Be¬
ruf, den er sich beimißt, und zu der Fülle eigenthümlicher Ansichten, die er
bei der kritischen Grundlegung dazu bändereich entwickelt hat. Es wäre un-
thunlich, darüber ganz zu schweigen, denn wem ein Wagner'sches Werk Aner¬
kennung abnöthigt, der wird, wenn er sich sonst nicht erklärt, ohne Weiteres
für einen Wagnerenthusiasten gehalten. Darum erkläre ich ein für alle Mal,
daß ich ein lebhafter Gegner Wagner's war in Bezug auf den größten Theil
seiner Werke, soweit ich sie kannte, sowohl als in Bezug auf seine theoreti¬
schen Axiome, vor Allem aber in Bezug auf die Form seines Auftretens. Ich
schätze aber über Alles die Freiheit und liebe am wenigsten die Sklaverei des Vor¬
urtheils; ich sagte immer: so lebhaft meine Antipathie ist, der erste natürliche
Ton auch aus dieser Kehle soll mich willig finden, mich an ihm zu erfreuen.
So hörte ich den Liebesgesang Siegmunds aus der Walküre, und hörte nach
meinem Gefühl ein natürliches und schönes Gebilde. In Folge dessen las
ich den "Ring des Nibelungen" und empfing den oben erwähnten Eindruck.
Ein solcher Eindruck kann nicht anders als auf die früheren antipathischen
Eindrücke verändernd zurückwirken. Ein Quell, der einen lauteren Strahl
entsendet, kann mancherlei Trübes mit sich geführt haben und wieder mit sich
führen, aber das Element, das seine Kraft ausmacht, kann nicht ein unreines
sein. An die Aufrichtigkeit und Stärke des Idealismus in Wagner muß man
nach seiner bedeutendsten Dichtung glauben. Aber das ist etwas anderes, als
an seine reformatorische Stellung glauben, wie er sie deferirt.

Einem ernstlich denkenden Menschen pflegt mit den Jahren klar zu wer¬
den, daß die Mutter Welt nicht die Gewohnheit hat, sich von einem ihrer
Kinder eines schönen Tages auf neue Bahnen schicken zu lassen. Die Be-


welche den untrennbaren und gleichwohl getrennt vorliegenden Bestandtheil
eines Werkes ausmacht, das wir eben erst bei dem Bühnenfest selbst als
Ganzes kennen zu lernen erwarten dürfen — verschaffen der Dichtung
also in diesen Tagen zunehmende Aufmerksamkeit auch außerhalb der Wagner¬
gemeinde.

Für den eigensinnigen Zahlenmenschen, den die „Grenzboten" sich zum
Mitarbeiter im Kunstfach erkoren haben, wäre jene allgemein werdende Auf¬
merksamkeit vielleicht kein Grund geworden, die Bekanntschaft des Bühnenfest-
spiels zu machen. Aber er hat sie gemacht, das heißt die Bekanntschaft der
Dichtung zu dem Bühnenfestspiel , und den Eindruck eines hochpoetischen und
hochdramatischen Werkes empfangen. Unter diesen Umständen benutzt er die
Aufmerksamkeit, welche dem Werke jetzt entgegenkommt, bei den Lesern der
„Grenzboten" als Freibrief für die Darlegung eines persönlichen Eindrucks.

Es gehört eine entschlossene Beschränkung dazu, dabei nicht weitläufig zu
werden. Von einem Werke Wagner's zu sprechen, ist in der That kaum
möglich ohne Zustimmung oder Ablehnung zu dem kunstreformatorischen Be¬
ruf, den er sich beimißt, und zu der Fülle eigenthümlicher Ansichten, die er
bei der kritischen Grundlegung dazu bändereich entwickelt hat. Es wäre un-
thunlich, darüber ganz zu schweigen, denn wem ein Wagner'sches Werk Aner¬
kennung abnöthigt, der wird, wenn er sich sonst nicht erklärt, ohne Weiteres
für einen Wagnerenthusiasten gehalten. Darum erkläre ich ein für alle Mal,
daß ich ein lebhafter Gegner Wagner's war in Bezug auf den größten Theil
seiner Werke, soweit ich sie kannte, sowohl als in Bezug auf seine theoreti¬
schen Axiome, vor Allem aber in Bezug auf die Form seines Auftretens. Ich
schätze aber über Alles die Freiheit und liebe am wenigsten die Sklaverei des Vor¬
urtheils; ich sagte immer: so lebhaft meine Antipathie ist, der erste natürliche
Ton auch aus dieser Kehle soll mich willig finden, mich an ihm zu erfreuen.
So hörte ich den Liebesgesang Siegmunds aus der Walküre, und hörte nach
meinem Gefühl ein natürliches und schönes Gebilde. In Folge dessen las
ich den „Ring des Nibelungen" und empfing den oben erwähnten Eindruck.
Ein solcher Eindruck kann nicht anders als auf die früheren antipathischen
Eindrücke verändernd zurückwirken. Ein Quell, der einen lauteren Strahl
entsendet, kann mancherlei Trübes mit sich geführt haben und wieder mit sich
führen, aber das Element, das seine Kraft ausmacht, kann nicht ein unreines
sein. An die Aufrichtigkeit und Stärke des Idealismus in Wagner muß man
nach seiner bedeutendsten Dichtung glauben. Aber das ist etwas anderes, als
an seine reformatorische Stellung glauben, wie er sie deferirt.

Einem ernstlich denkenden Menschen pflegt mit den Jahren klar zu wer¬
den, daß die Mutter Welt nicht die Gewohnheit hat, sich von einem ihrer
Kinder eines schönen Tages auf neue Bahnen schicken zu lassen. Die Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/400>, abgerufen am 09.06.2024.