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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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gabten unter diesen Kindern haben seit Jahrtausenden ein Feuer entzündet
und genährt, das durch die Adern der Menschheit sich belebend ergießt.
Diejenigen Kinder der Welt, welche an ihr gar nichts Gutes finden oder an
dem Augenblick der Welt gar nichts Gutes finden. in welchen ihr eigenes
Dasein fällt, pflegen undankbar zu sein in Folge einer leeren, spröden Sub-
jectivität, die nicht im Stande ist, jenes uralte Feuer mit der Eigenwärme,
beide erhöhend, zu vermählen. Ganz dürfen wir Wagner nicht zu diesen un¬
dankbaren und hohlen Kindern rechnen, wenn er auch leider viel von ihren
Unarten an sich hat. Sein Mißgeschick ist, daß er bei einem ureigner Drange
zu dem Lebensvollen und Wahren zu jenen absonderlichen Naturen gehört,
welche die Wahrheit oder Schönheit nur anthitetisch ergreifen können, wie
wenn Jemand auf die Nacht schimpfen müßte, um die Sonne zu genießen.
Die seltenste Organisation ist allerdings diejenige, welche durch jede einzelne
Wahrheit auf die Verbindungen aller Wahrheiten geführt wird. Das ist
nicht der Fall unseres Propheten. Wo er ein Gesicht schaut, schlägt er eiligst
auf Alles los, was er feinem leuchtenden Antlitz im Wege glaubt, während
dasselbe durch die Verbindung mit anderen Strahlen erst seine ganze Schön¬
heit empfinge. Dem Kenner der Wagner'schen Schriften werden die Beispiele
dieses Verfahrens zahlreich beifallen. Nur an eines will ich erinnern, weil
es nicht blos die Schranke des Autors, sondern auch seine unleugbare Kraft
deutlich bekundet. Es kann nichts Einseitigeres, nichts Falscheres geben als
die Bemerkungen, worin Wagner den monumentalen Charakter des Kunst¬
werks angreift. Aber in dem Beweis dieser falschen Behauptung welche
Fülle schlagender, zum Theil ergreifender Wahrnehmung! Man muß zuge¬
stehen, daß gerade durch diese Eigenschaft Wagner ein interessanter Schrift¬
steller ist. Er nöthigt den Leser immerfort zum Widerspruch, aber nur ein
beweglicher, inhaltvoller Geist kann ihm mit Erfolg widersprechen, und ein
solcher Widerspruch wird zur anregenden Production.

Hat man einmal ein tieferes Interesse für Wagner genommen, so braucht
man noch lange nicht zu der selbstlosen Heerde der Anbeter zu gehören, son¬
dern man wird über fein ungeberdiges Prophetenthum sich mit dem Gedanken
hinweghelfen, daß der Glauben an dasselbe untrennbar gewesen von dem
Glauben an seinen eigenthümlichen Künstlerberuf. Dem letzteren Glauben
verdanken wir ein eigenthümlich schönes Werk. Es soll Niemanden herzlicher
freuen als uns, wenn dieses Werk, das bis jetzt nach der Anlage, die ihm der
Verfasser gegeben, nur als ein einseitiges Ganze vorliegt, in seiner vollende¬
ten Hälfte ein ebenso fesselndes Gelingen zeigt wie in der ersten. Dies würde
uns freuen, nicht nur um des Künstlers, sondern auch um der Kunst, um un¬
Felix Cain. seres Volkes, um unserer selbst willen. '




Grenzboten III. 1873.SV

gabten unter diesen Kindern haben seit Jahrtausenden ein Feuer entzündet
und genährt, das durch die Adern der Menschheit sich belebend ergießt.
Diejenigen Kinder der Welt, welche an ihr gar nichts Gutes finden oder an
dem Augenblick der Welt gar nichts Gutes finden. in welchen ihr eigenes
Dasein fällt, pflegen undankbar zu sein in Folge einer leeren, spröden Sub-
jectivität, die nicht im Stande ist, jenes uralte Feuer mit der Eigenwärme,
beide erhöhend, zu vermählen. Ganz dürfen wir Wagner nicht zu diesen un¬
dankbaren und hohlen Kindern rechnen, wenn er auch leider viel von ihren
Unarten an sich hat. Sein Mißgeschick ist, daß er bei einem ureigner Drange
zu dem Lebensvollen und Wahren zu jenen absonderlichen Naturen gehört,
welche die Wahrheit oder Schönheit nur anthitetisch ergreifen können, wie
wenn Jemand auf die Nacht schimpfen müßte, um die Sonne zu genießen.
Die seltenste Organisation ist allerdings diejenige, welche durch jede einzelne
Wahrheit auf die Verbindungen aller Wahrheiten geführt wird. Das ist
nicht der Fall unseres Propheten. Wo er ein Gesicht schaut, schlägt er eiligst
auf Alles los, was er feinem leuchtenden Antlitz im Wege glaubt, während
dasselbe durch die Verbindung mit anderen Strahlen erst seine ganze Schön¬
heit empfinge. Dem Kenner der Wagner'schen Schriften werden die Beispiele
dieses Verfahrens zahlreich beifallen. Nur an eines will ich erinnern, weil
es nicht blos die Schranke des Autors, sondern auch seine unleugbare Kraft
deutlich bekundet. Es kann nichts Einseitigeres, nichts Falscheres geben als
die Bemerkungen, worin Wagner den monumentalen Charakter des Kunst¬
werks angreift. Aber in dem Beweis dieser falschen Behauptung welche
Fülle schlagender, zum Theil ergreifender Wahrnehmung! Man muß zuge¬
stehen, daß gerade durch diese Eigenschaft Wagner ein interessanter Schrift¬
steller ist. Er nöthigt den Leser immerfort zum Widerspruch, aber nur ein
beweglicher, inhaltvoller Geist kann ihm mit Erfolg widersprechen, und ein
solcher Widerspruch wird zur anregenden Production.

Hat man einmal ein tieferes Interesse für Wagner genommen, so braucht
man noch lange nicht zu der selbstlosen Heerde der Anbeter zu gehören, son¬
dern man wird über fein ungeberdiges Prophetenthum sich mit dem Gedanken
hinweghelfen, daß der Glauben an dasselbe untrennbar gewesen von dem
Glauben an seinen eigenthümlichen Künstlerberuf. Dem letzteren Glauben
verdanken wir ein eigenthümlich schönes Werk. Es soll Niemanden herzlicher
freuen als uns, wenn dieses Werk, das bis jetzt nach der Anlage, die ihm der
Verfasser gegeben, nur als ein einseitiges Ganze vorliegt, in seiner vollende¬
ten Hälfte ein ebenso fesselndes Gelingen zeigt wie in der ersten. Dies würde
uns freuen, nicht nur um des Künstlers, sondern auch um der Kunst, um un¬
Felix Cain. seres Volkes, um unserer selbst willen. '




Grenzboten III. 1873.SV
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/401>, abgerufen am 18.05.2024.