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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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keit des Richterstandes überschätzt. Man hat wohl gewußt, daß diese Selbstän¬
digkeit erst langsam auf dem Wege der Erziehung sich einfinden werde. Aber
wir empfinden jetzt den Uebelstand dieser Langsamkeit. Die Richter machen
keinen Gebrauch von der Befugniß, die Strafe abzumessen nach der Beschaf¬
fenheit der Fälle, sondern sie halten sich an die bequeme Routine der Unselb¬
ständigkeit, bei jeder Bestrafung das kleinste Strafmaß anzuwenden, um an
der Hand des Einmaleins weiter zu schreiten. Gleichwohl möchten wir die
Abhülfe um keinen Preis in einer Erhöhung der Minimalstrafen suchen. Viel¬
mehr muß das Bewußtsein der richterlichen Selbständigkeit und Verantwor¬
tung geschärft werden, und dafür wird das wahre Mittel in der Einsetzung
des Schöffengerichts zu finden sein. (Keineswegs! D. Red.)

Die Sitzung vom 14. Januar brachte die Berathung verschiedener An¬
träge technischer Natur, darunter auch eine Petition aus Berlin um eine
größere Zahl von Abgeordnetensitzen. Das Haus ging mit Recht zur Tages¬
ordnung über, denn diese Frage kann nur regulirt werden bei Gelegenheit
der Neubildung der ganzen preußischen Landesvertretung. Diese schwierige
Angelegenheit aber muß und kann sehr gut Aufschub erleiden, bis die eiligeren
Aufgaben, deren Gedränge wir so unbequem empfinden, abgethan sind. Ferner
erwähnen wir aus derselben Sitzung die erste Berathung zweier Anträge des
Abgeordneten Hagen auf Unterwerfung der Staatsbeamten unter die Com-
munalsteuern und auf Heranziehung der Forensen, juristischen Personen,
Aktiengesellschaften u. s. w. zu denselben Steuern. Das Haus beschloß, den
ersten Antrag im Plenum weiter zu berathen, zur Vorberathung des zweiten
die Gemeindeeommission um sieben Mitglieder zu verstärken.

Am 15. Januar stand das Gesetz über die Einführung der bürgerlichen
Standesregister u. s. w. zur dritten Berathung. Wie die Leser sich aus dem
letzten Bericht des vorigen Jahres erinnern, hatte bei der zweiten Berathung
nur Ein Punkt einen lebhaften Gegensatz der Meinungen hervorgerufen.
Die Regierung hatte in ihrem Entwurf sich die Befugniß gesichert, in dringen¬
den Fällen auch Geistliche zu Standesbeamten zu ernennen, d. h. in den Fällen,
wo andere geeignete Personen durchaus nicht vorhanden sind. Die Fort¬
schrittspartei wollte dieser Befugniß einen Termin setzen, und drohte, das
Gesetz lieber zu vereiteln, wenn es die Befugniß der Ernennung geistlicher
Standesbeamten der Regierung siue als gewähre. Andererseits bestand auch
zwischen der Ansicht der Nationalliberalen und dem Regierungsentwurf eine
Differenz, bei welcher die Regierung sich jedoch accommodirte. Der Regie¬
rungsentwurf wollte nämlich die Zulässigkeit geistlicher Standesbeamten nur
mit der Beschränkung einführen, daß die Geistlichen nur als lokale Neben¬
beamte des Hauptstandesbeamten fungiren dürften, welcher letztere unter allen
Umständen eine Person nichtgeistltchen Standes sein sollte. Dadurch wäre.


keit des Richterstandes überschätzt. Man hat wohl gewußt, daß diese Selbstän¬
digkeit erst langsam auf dem Wege der Erziehung sich einfinden werde. Aber
wir empfinden jetzt den Uebelstand dieser Langsamkeit. Die Richter machen
keinen Gebrauch von der Befugniß, die Strafe abzumessen nach der Beschaf¬
fenheit der Fälle, sondern sie halten sich an die bequeme Routine der Unselb¬
ständigkeit, bei jeder Bestrafung das kleinste Strafmaß anzuwenden, um an
der Hand des Einmaleins weiter zu schreiten. Gleichwohl möchten wir die
Abhülfe um keinen Preis in einer Erhöhung der Minimalstrafen suchen. Viel¬
mehr muß das Bewußtsein der richterlichen Selbständigkeit und Verantwor¬
tung geschärft werden, und dafür wird das wahre Mittel in der Einsetzung
des Schöffengerichts zu finden sein. (Keineswegs! D. Red.)

Die Sitzung vom 14. Januar brachte die Berathung verschiedener An¬
träge technischer Natur, darunter auch eine Petition aus Berlin um eine
größere Zahl von Abgeordnetensitzen. Das Haus ging mit Recht zur Tages¬
ordnung über, denn diese Frage kann nur regulirt werden bei Gelegenheit
der Neubildung der ganzen preußischen Landesvertretung. Diese schwierige
Angelegenheit aber muß und kann sehr gut Aufschub erleiden, bis die eiligeren
Aufgaben, deren Gedränge wir so unbequem empfinden, abgethan sind. Ferner
erwähnen wir aus derselben Sitzung die erste Berathung zweier Anträge des
Abgeordneten Hagen auf Unterwerfung der Staatsbeamten unter die Com-
munalsteuern und auf Heranziehung der Forensen, juristischen Personen,
Aktiengesellschaften u. s. w. zu denselben Steuern. Das Haus beschloß, den
ersten Antrag im Plenum weiter zu berathen, zur Vorberathung des zweiten
die Gemeindeeommission um sieben Mitglieder zu verstärken.

Am 15. Januar stand das Gesetz über die Einführung der bürgerlichen
Standesregister u. s. w. zur dritten Berathung. Wie die Leser sich aus dem
letzten Bericht des vorigen Jahres erinnern, hatte bei der zweiten Berathung
nur Ein Punkt einen lebhaften Gegensatz der Meinungen hervorgerufen.
Die Regierung hatte in ihrem Entwurf sich die Befugniß gesichert, in dringen¬
den Fällen auch Geistliche zu Standesbeamten zu ernennen, d. h. in den Fällen,
wo andere geeignete Personen durchaus nicht vorhanden sind. Die Fort¬
schrittspartei wollte dieser Befugniß einen Termin setzen, und drohte, das
Gesetz lieber zu vereiteln, wenn es die Befugniß der Ernennung geistlicher
Standesbeamten der Regierung siue als gewähre. Andererseits bestand auch
zwischen der Ansicht der Nationalliberalen und dem Regierungsentwurf eine
Differenz, bei welcher die Regierung sich jedoch accommodirte. Der Regie¬
rungsentwurf wollte nämlich die Zulässigkeit geistlicher Standesbeamten nur
mit der Beschränkung einführen, daß die Geistlichen nur als lokale Neben¬
beamte des Hauptstandesbeamten fungiren dürften, welcher letztere unter allen
Umständen eine Person nichtgeistltchen Standes sein sollte. Dadurch wäre.


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[0153] keit des Richterstandes überschätzt. Man hat wohl gewußt, daß diese Selbstän¬ digkeit erst langsam auf dem Wege der Erziehung sich einfinden werde. Aber wir empfinden jetzt den Uebelstand dieser Langsamkeit. Die Richter machen keinen Gebrauch von der Befugniß, die Strafe abzumessen nach der Beschaf¬ fenheit der Fälle, sondern sie halten sich an die bequeme Routine der Unselb¬ ständigkeit, bei jeder Bestrafung das kleinste Strafmaß anzuwenden, um an der Hand des Einmaleins weiter zu schreiten. Gleichwohl möchten wir die Abhülfe um keinen Preis in einer Erhöhung der Minimalstrafen suchen. Viel¬ mehr muß das Bewußtsein der richterlichen Selbständigkeit und Verantwor¬ tung geschärft werden, und dafür wird das wahre Mittel in der Einsetzung des Schöffengerichts zu finden sein. (Keineswegs! D. Red.) Die Sitzung vom 14. Januar brachte die Berathung verschiedener An¬ träge technischer Natur, darunter auch eine Petition aus Berlin um eine größere Zahl von Abgeordnetensitzen. Das Haus ging mit Recht zur Tages¬ ordnung über, denn diese Frage kann nur regulirt werden bei Gelegenheit der Neubildung der ganzen preußischen Landesvertretung. Diese schwierige Angelegenheit aber muß und kann sehr gut Aufschub erleiden, bis die eiligeren Aufgaben, deren Gedränge wir so unbequem empfinden, abgethan sind. Ferner erwähnen wir aus derselben Sitzung die erste Berathung zweier Anträge des Abgeordneten Hagen auf Unterwerfung der Staatsbeamten unter die Com- munalsteuern und auf Heranziehung der Forensen, juristischen Personen, Aktiengesellschaften u. s. w. zu denselben Steuern. Das Haus beschloß, den ersten Antrag im Plenum weiter zu berathen, zur Vorberathung des zweiten die Gemeindeeommission um sieben Mitglieder zu verstärken. Am 15. Januar stand das Gesetz über die Einführung der bürgerlichen Standesregister u. s. w. zur dritten Berathung. Wie die Leser sich aus dem letzten Bericht des vorigen Jahres erinnern, hatte bei der zweiten Berathung nur Ein Punkt einen lebhaften Gegensatz der Meinungen hervorgerufen. Die Regierung hatte in ihrem Entwurf sich die Befugniß gesichert, in dringen¬ den Fällen auch Geistliche zu Standesbeamten zu ernennen, d. h. in den Fällen, wo andere geeignete Personen durchaus nicht vorhanden sind. Die Fort¬ schrittspartei wollte dieser Befugniß einen Termin setzen, und drohte, das Gesetz lieber zu vereiteln, wenn es die Befugniß der Ernennung geistlicher Standesbeamten der Regierung siue als gewähre. Andererseits bestand auch zwischen der Ansicht der Nationalliberalen und dem Regierungsentwurf eine Differenz, bei welcher die Regierung sich jedoch accommodirte. Der Regie¬ rungsentwurf wollte nämlich die Zulässigkeit geistlicher Standesbeamten nur mit der Beschränkung einführen, daß die Geistlichen nur als lokale Neben¬ beamte des Hauptstandesbeamten fungiren dürften, welcher letztere unter allen Umständen eine Person nichtgeistltchen Standes sein sollte. Dadurch wäre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/153>, abgerufen am 26.05.2024.