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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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annehmen, daß alle sächsischen Abgeordneten außer den Socialdemokraten:
Conservative, Nationale, Forschrittsleute, der Reichsregierung und der Reichs¬
politik i-sbus sie stantibus treue Anhänger sein werden; die Erstarkung der
Socialdemokraten regt gleichwohl die ernstesten Bedenken an. Es frommt
nicht, sich damit zu trösten, daß die Januarwahlen zum Reichstag in Sachsen
überhaupt Minoritätswahlen sind, daß reichlich ^ von der halben Million
Wahlberechtigter gar nicht gestimmt haben, ja daß diese saumseligen Staats¬
bürger aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn sie gewählt hätten, überall den
Sieg socialdemokratischer Abgeordneten vereitelt haben würden. Das ändert
nichts an dem vorliegenden Wahlergebniß. Und bei dem nächsten Wahlgang
in drei Jahren wird voraussichtlich abermals ein starker Bruchtheil der Wahl¬
berechtigten die Wahl verschlafen. Wie ernst auch die sächsische Regierung
das Wahlresultat auffaßt, erhellt wohl am besten aus einer Rede des Ministers
v. Friesen bei Gelegenheit eines Zweckessens der zweiten sächsischen Kammer,
in welcher er mit Rücksicht auf die Fortschritte der Socialdemokraten bei den
Wahlen, allen reichstreuen Parteien, und namentlich den Anhängern der
Regierung, ein energisches und festes Zusammenwirken zur Pflicht macht.

Diese Rede des Ministers ist selbst von den amtlichen und offiziösen
Organen des Landes nicht mit lebhafterer Freude begrüßt worden, als Sei¬
ten der nationalen Presse. Bereitwilligst und ohne Zaudern bieten die viel¬
geschmähten Nationalliberalen in Sachsen die Hand zu gemeinsamem Bunde
im Kampfe für das Reich denen, welche vor wenigen Monaten noch die
bloße Existenz der nationalen Partei, geschweige denn ihr politisches Wirken,
in der von Königl. Sachs. Staatsbeamten redigirten und inspizirten "Leipziger
Zeitung" als "ein Unglück fürs Land" erklärten, und ebenda den National¬
liberalen "den Krieg bis aufs Messer" verkündeten. Die Rede deS Ministers
v. Friesen ist eben ihrer weit höheren Einsicht wegen mit großer Freude
überall im Lande aufgenommen worden. Denn man kann seine Worte un¬
möglich anders deuten, als dahin, daß er auch im Interesse der sächsischen
Regierung, ein inniges Zusammenwirken aller reichstreuen Parteien für
nothwendig hält. Damit ist indirect anerkannt, daß ein solches bisher
nicht stattgefunden hat; ferner, daß der Minister sich verpflichtet hält, na-
mentlich auch den Anhängern der Regierungspartei ein festes Bündniß
mit den liberalen Parteien gegen die reichsfeindlichen Elemente des Landes
anzuempfehlen; endlich, daß die Regierung ihrerseits bisher diese Empfehlung
verabsäumte. Denn der Herr Minister hat doch bet jener feierlichen Gelegen¬
heit sicherlich nicht blos anerkannte Gemeinplätze berühren, sondern etwas
neues sagen, ein tiefgefühltes aber wenig befriedigtes Bedürfniß zum Ausdruck
bringen, und wo möglich auch der Befriedigung näher führen wollen. --

In der That kommt die Rede des Ministers, von dieser Seite betrachtet.


annehmen, daß alle sächsischen Abgeordneten außer den Socialdemokraten:
Conservative, Nationale, Forschrittsleute, der Reichsregierung und der Reichs¬
politik i-sbus sie stantibus treue Anhänger sein werden; die Erstarkung der
Socialdemokraten regt gleichwohl die ernstesten Bedenken an. Es frommt
nicht, sich damit zu trösten, daß die Januarwahlen zum Reichstag in Sachsen
überhaupt Minoritätswahlen sind, daß reichlich ^ von der halben Million
Wahlberechtigter gar nicht gestimmt haben, ja daß diese saumseligen Staats¬
bürger aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn sie gewählt hätten, überall den
Sieg socialdemokratischer Abgeordneten vereitelt haben würden. Das ändert
nichts an dem vorliegenden Wahlergebniß. Und bei dem nächsten Wahlgang
in drei Jahren wird voraussichtlich abermals ein starker Bruchtheil der Wahl¬
berechtigten die Wahl verschlafen. Wie ernst auch die sächsische Regierung
das Wahlresultat auffaßt, erhellt wohl am besten aus einer Rede des Ministers
v. Friesen bei Gelegenheit eines Zweckessens der zweiten sächsischen Kammer,
in welcher er mit Rücksicht auf die Fortschritte der Socialdemokraten bei den
Wahlen, allen reichstreuen Parteien, und namentlich den Anhängern der
Regierung, ein energisches und festes Zusammenwirken zur Pflicht macht.

Diese Rede des Ministers ist selbst von den amtlichen und offiziösen
Organen des Landes nicht mit lebhafterer Freude begrüßt worden, als Sei¬
ten der nationalen Presse. Bereitwilligst und ohne Zaudern bieten die viel¬
geschmähten Nationalliberalen in Sachsen die Hand zu gemeinsamem Bunde
im Kampfe für das Reich denen, welche vor wenigen Monaten noch die
bloße Existenz der nationalen Partei, geschweige denn ihr politisches Wirken,
in der von Königl. Sachs. Staatsbeamten redigirten und inspizirten „Leipziger
Zeitung" als „ein Unglück fürs Land" erklärten, und ebenda den National¬
liberalen „den Krieg bis aufs Messer" verkündeten. Die Rede deS Ministers
v. Friesen ist eben ihrer weit höheren Einsicht wegen mit großer Freude
überall im Lande aufgenommen worden. Denn man kann seine Worte un¬
möglich anders deuten, als dahin, daß er auch im Interesse der sächsischen
Regierung, ein inniges Zusammenwirken aller reichstreuen Parteien für
nothwendig hält. Damit ist indirect anerkannt, daß ein solches bisher
nicht stattgefunden hat; ferner, daß der Minister sich verpflichtet hält, na-
mentlich auch den Anhängern der Regierungspartei ein festes Bündniß
mit den liberalen Parteien gegen die reichsfeindlichen Elemente des Landes
anzuempfehlen; endlich, daß die Regierung ihrerseits bisher diese Empfehlung
verabsäumte. Denn der Herr Minister hat doch bet jener feierlichen Gelegen¬
heit sicherlich nicht blos anerkannte Gemeinplätze berühren, sondern etwas
neues sagen, ein tiefgefühltes aber wenig befriedigtes Bedürfniß zum Ausdruck
bringen, und wo möglich auch der Befriedigung näher führen wollen. —

In der That kommt die Rede des Ministers, von dieser Seite betrachtet.


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[0204] annehmen, daß alle sächsischen Abgeordneten außer den Socialdemokraten: Conservative, Nationale, Forschrittsleute, der Reichsregierung und der Reichs¬ politik i-sbus sie stantibus treue Anhänger sein werden; die Erstarkung der Socialdemokraten regt gleichwohl die ernstesten Bedenken an. Es frommt nicht, sich damit zu trösten, daß die Januarwahlen zum Reichstag in Sachsen überhaupt Minoritätswahlen sind, daß reichlich ^ von der halben Million Wahlberechtigter gar nicht gestimmt haben, ja daß diese saumseligen Staats¬ bürger aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn sie gewählt hätten, überall den Sieg socialdemokratischer Abgeordneten vereitelt haben würden. Das ändert nichts an dem vorliegenden Wahlergebniß. Und bei dem nächsten Wahlgang in drei Jahren wird voraussichtlich abermals ein starker Bruchtheil der Wahl¬ berechtigten die Wahl verschlafen. Wie ernst auch die sächsische Regierung das Wahlresultat auffaßt, erhellt wohl am besten aus einer Rede des Ministers v. Friesen bei Gelegenheit eines Zweckessens der zweiten sächsischen Kammer, in welcher er mit Rücksicht auf die Fortschritte der Socialdemokraten bei den Wahlen, allen reichstreuen Parteien, und namentlich den Anhängern der Regierung, ein energisches und festes Zusammenwirken zur Pflicht macht. Diese Rede des Ministers ist selbst von den amtlichen und offiziösen Organen des Landes nicht mit lebhafterer Freude begrüßt worden, als Sei¬ ten der nationalen Presse. Bereitwilligst und ohne Zaudern bieten die viel¬ geschmähten Nationalliberalen in Sachsen die Hand zu gemeinsamem Bunde im Kampfe für das Reich denen, welche vor wenigen Monaten noch die bloße Existenz der nationalen Partei, geschweige denn ihr politisches Wirken, in der von Königl. Sachs. Staatsbeamten redigirten und inspizirten „Leipziger Zeitung" als „ein Unglück fürs Land" erklärten, und ebenda den National¬ liberalen „den Krieg bis aufs Messer" verkündeten. Die Rede deS Ministers v. Friesen ist eben ihrer weit höheren Einsicht wegen mit großer Freude überall im Lande aufgenommen worden. Denn man kann seine Worte un¬ möglich anders deuten, als dahin, daß er auch im Interesse der sächsischen Regierung, ein inniges Zusammenwirken aller reichstreuen Parteien für nothwendig hält. Damit ist indirect anerkannt, daß ein solches bisher nicht stattgefunden hat; ferner, daß der Minister sich verpflichtet hält, na- mentlich auch den Anhängern der Regierungspartei ein festes Bündniß mit den liberalen Parteien gegen die reichsfeindlichen Elemente des Landes anzuempfehlen; endlich, daß die Regierung ihrerseits bisher diese Empfehlung verabsäumte. Denn der Herr Minister hat doch bet jener feierlichen Gelegen¬ heit sicherlich nicht blos anerkannte Gemeinplätze berühren, sondern etwas neues sagen, ein tiefgefühltes aber wenig befriedigtes Bedürfniß zum Ausdruck bringen, und wo möglich auch der Befriedigung näher führen wollen. — In der That kommt die Rede des Ministers, von dieser Seite betrachtet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/204>, abgerufen am 13.05.2024.