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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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wie der heilige Crispin, dem Einen das Leder stiehlt, um dem Andern Schuhe
daraus zu machen, dieses ganze ungesunde, nebelhafte Verhältniß wäre eine
treffliche Zielscheibe für die Satire.

Was also ergiebt sich aus dieser ganzen Auseinanderfädlung? Dies, daß
Wagner als junger Künstler völlig wast- und planlos über beliebige Stoffe
hergefallen ist; daß er es nicht nur an genauem Studium seiner Quellen hat
fehlen lassen, sondern daß ihm auch jener dichterische Geist abging, der in
einem Stoffe sofort den poetischen Kern entdeckt und herauszuarbeiten weiß.
Diese Erkenntniß führt uns weiter zu Folgendem.

Die Phantasie, diese dem Dichter so nothwendige Eigenschaft, die com-
binirende Kraft der Vorstellung, welche aus reiner Schaffenslust dem Stoffe
giebt und nimmt, bis er Gestalt nach ihrem Herzen angenommen -- besitzt
Wagner diese Zaubermacht oder nicht? Es ist das eine seitliche Frage.
Denn sehr viel läßt sich auf diesem Gebiete erarbeiten. Und besonders
schwierig ist sie einem Dichter gegenüber, dessen Geist gewohnt ist, sich in
hohen, idealen Regionen zu bewegen. Die Bilder, welche ein solcher braucht,
die ganze Anschauung, von der er erfüllt ist, fallen auf und gelten leicht für
ein Zeichen von Phantasie, während sie nur neu und groß sind. Schiller
ist hierfür ja ein klassisches Beispiel. Wagner hat jedenfalls eine Anzahl
theoretischer Aeußerungen gethan, welche auf alles Andere eher als auf
Phantasie bei ihm schließen lassen. Dahin gehört, was er von der Unvoll-
kommenheit des Claviers, sowie von der blos imaginären Musik der Sonaten
für Klavier und Violine sagt. Shakespeare's Dramen will er nur verstanden
haben, wenn sie auf der Bühne vor ihm aufgeführt wurden, "wo dann das
Bild des Lebens, mit unwiderstehlicher Naturwahrheit im Spiegel gesehn (!)
vor uns stand und uns mit dem erhabenen Schrecken einer Geistererscheinung
erfüllte." (Bestimm, der Op. S. 26.) Ja. von seiner ganzen Kunstrichtung,
welche die "Universalität der Kunstempfänglichkeit" des Menschen befriedigen
will, darf man sagen, daß sie nur von einem an Phantasie armen, der sinn¬
fälligen Darstellung bedürftigen Geiste ausgehn konnte. Und dennoch, es ist
nicht möglich, Wagner's Textbücher durchzusehen, ohne ihm wiederum ein
großes Maß künstlerischer Vorstellungsgabe zuzusprechen. Diese ist zwar nicht
genau dasselbe, wie die überall sammelnde, schaffende und ausgestaltende
Phantasie, aber in ihren Wirkungen kommt sie ihr zum mindesten sehr nahe.
Behalten wir diesen Punkt im Auge, indem wir uns zu dem Scenenaufbau
und sodann zu der Charakterzeichnung seiner Dichtungen wenden.

Für das bühnlich Wirksame hat Wagner immer einen sichern Blick be¬
wiesen. Einen so sichern, daß seine Erstlingswerke mehrmals derselbe Vor¬
wurf trifft, welchen er selbst gegen Meyerbeer erhoben: der Vorwurf der
Effekthascherei. Den Effect hat Wagner, etwas sonderbar, als "Wirkung


wie der heilige Crispin, dem Einen das Leder stiehlt, um dem Andern Schuhe
daraus zu machen, dieses ganze ungesunde, nebelhafte Verhältniß wäre eine
treffliche Zielscheibe für die Satire.

Was also ergiebt sich aus dieser ganzen Auseinanderfädlung? Dies, daß
Wagner als junger Künstler völlig wast- und planlos über beliebige Stoffe
hergefallen ist; daß er es nicht nur an genauem Studium seiner Quellen hat
fehlen lassen, sondern daß ihm auch jener dichterische Geist abging, der in
einem Stoffe sofort den poetischen Kern entdeckt und herauszuarbeiten weiß.
Diese Erkenntniß führt uns weiter zu Folgendem.

Die Phantasie, diese dem Dichter so nothwendige Eigenschaft, die com-
binirende Kraft der Vorstellung, welche aus reiner Schaffenslust dem Stoffe
giebt und nimmt, bis er Gestalt nach ihrem Herzen angenommen — besitzt
Wagner diese Zaubermacht oder nicht? Es ist das eine seitliche Frage.
Denn sehr viel läßt sich auf diesem Gebiete erarbeiten. Und besonders
schwierig ist sie einem Dichter gegenüber, dessen Geist gewohnt ist, sich in
hohen, idealen Regionen zu bewegen. Die Bilder, welche ein solcher braucht,
die ganze Anschauung, von der er erfüllt ist, fallen auf und gelten leicht für
ein Zeichen von Phantasie, während sie nur neu und groß sind. Schiller
ist hierfür ja ein klassisches Beispiel. Wagner hat jedenfalls eine Anzahl
theoretischer Aeußerungen gethan, welche auf alles Andere eher als auf
Phantasie bei ihm schließen lassen. Dahin gehört, was er von der Unvoll-
kommenheit des Claviers, sowie von der blos imaginären Musik der Sonaten
für Klavier und Violine sagt. Shakespeare's Dramen will er nur verstanden
haben, wenn sie auf der Bühne vor ihm aufgeführt wurden, „wo dann das
Bild des Lebens, mit unwiderstehlicher Naturwahrheit im Spiegel gesehn (!)
vor uns stand und uns mit dem erhabenen Schrecken einer Geistererscheinung
erfüllte." (Bestimm, der Op. S. 26.) Ja. von seiner ganzen Kunstrichtung,
welche die „Universalität der Kunstempfänglichkeit" des Menschen befriedigen
will, darf man sagen, daß sie nur von einem an Phantasie armen, der sinn¬
fälligen Darstellung bedürftigen Geiste ausgehn konnte. Und dennoch, es ist
nicht möglich, Wagner's Textbücher durchzusehen, ohne ihm wiederum ein
großes Maß künstlerischer Vorstellungsgabe zuzusprechen. Diese ist zwar nicht
genau dasselbe, wie die überall sammelnde, schaffende und ausgestaltende
Phantasie, aber in ihren Wirkungen kommt sie ihr zum mindesten sehr nahe.
Behalten wir diesen Punkt im Auge, indem wir uns zu dem Scenenaufbau
und sodann zu der Charakterzeichnung seiner Dichtungen wenden.

Für das bühnlich Wirksame hat Wagner immer einen sichern Blick be¬
wiesen. Einen so sichern, daß seine Erstlingswerke mehrmals derselbe Vor¬
wurf trifft, welchen er selbst gegen Meyerbeer erhoben: der Vorwurf der
Effekthascherei. Den Effect hat Wagner, etwas sonderbar, als „Wirkung


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[0226] wie der heilige Crispin, dem Einen das Leder stiehlt, um dem Andern Schuhe daraus zu machen, dieses ganze ungesunde, nebelhafte Verhältniß wäre eine treffliche Zielscheibe für die Satire. Was also ergiebt sich aus dieser ganzen Auseinanderfädlung? Dies, daß Wagner als junger Künstler völlig wast- und planlos über beliebige Stoffe hergefallen ist; daß er es nicht nur an genauem Studium seiner Quellen hat fehlen lassen, sondern daß ihm auch jener dichterische Geist abging, der in einem Stoffe sofort den poetischen Kern entdeckt und herauszuarbeiten weiß. Diese Erkenntniß führt uns weiter zu Folgendem. Die Phantasie, diese dem Dichter so nothwendige Eigenschaft, die com- binirende Kraft der Vorstellung, welche aus reiner Schaffenslust dem Stoffe giebt und nimmt, bis er Gestalt nach ihrem Herzen angenommen — besitzt Wagner diese Zaubermacht oder nicht? Es ist das eine seitliche Frage. Denn sehr viel läßt sich auf diesem Gebiete erarbeiten. Und besonders schwierig ist sie einem Dichter gegenüber, dessen Geist gewohnt ist, sich in hohen, idealen Regionen zu bewegen. Die Bilder, welche ein solcher braucht, die ganze Anschauung, von der er erfüllt ist, fallen auf und gelten leicht für ein Zeichen von Phantasie, während sie nur neu und groß sind. Schiller ist hierfür ja ein klassisches Beispiel. Wagner hat jedenfalls eine Anzahl theoretischer Aeußerungen gethan, welche auf alles Andere eher als auf Phantasie bei ihm schließen lassen. Dahin gehört, was er von der Unvoll- kommenheit des Claviers, sowie von der blos imaginären Musik der Sonaten für Klavier und Violine sagt. Shakespeare's Dramen will er nur verstanden haben, wenn sie auf der Bühne vor ihm aufgeführt wurden, „wo dann das Bild des Lebens, mit unwiderstehlicher Naturwahrheit im Spiegel gesehn (!) vor uns stand und uns mit dem erhabenen Schrecken einer Geistererscheinung erfüllte." (Bestimm, der Op. S. 26.) Ja. von seiner ganzen Kunstrichtung, welche die „Universalität der Kunstempfänglichkeit" des Menschen befriedigen will, darf man sagen, daß sie nur von einem an Phantasie armen, der sinn¬ fälligen Darstellung bedürftigen Geiste ausgehn konnte. Und dennoch, es ist nicht möglich, Wagner's Textbücher durchzusehen, ohne ihm wiederum ein großes Maß künstlerischer Vorstellungsgabe zuzusprechen. Diese ist zwar nicht genau dasselbe, wie die überall sammelnde, schaffende und ausgestaltende Phantasie, aber in ihren Wirkungen kommt sie ihr zum mindesten sehr nahe. Behalten wir diesen Punkt im Auge, indem wir uns zu dem Scenenaufbau und sodann zu der Charakterzeichnung seiner Dichtungen wenden. Für das bühnlich Wirksame hat Wagner immer einen sichern Blick be¬ wiesen. Einen so sichern, daß seine Erstlingswerke mehrmals derselbe Vor¬ wurf trifft, welchen er selbst gegen Meyerbeer erhoben: der Vorwurf der Effekthascherei. Den Effect hat Wagner, etwas sonderbar, als „Wirkung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/226>, abgerufen am 06.06.2024.