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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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fassungslos. Damit schließt der Act. Das ganze Gefühl eines furchtbaren
Schicksals muß den durchdringen, der sich in dieses ergreifende Gebilde ver¬
tieft. Gegen das gesammte Werk läßt sich gar unendlich viel einwenden,
aber schwerlich etwas gegen den ersten Aufzug. Auf alle Fälle wäre es
Pflicht der größeren deutschen Bühnen, diese Schöpfung dem Publikum nicht
länger vorzuenthalten. Wozu der öde, triste Holländers Wozu der selbstge¬
fällige, lärmende Rienzi? Wozu die Meistersinger mit ihrer angestrengten
Komik? Tristan und Isolde -- das Werk mag Mängel haben, so viel man
will, es mag einer grundfalschen Lebensanschauung huldigen, aber es ist ein
Werk von ureigenster Kraft, durchdrungen von den mächtigsten Gefühlen, ein¬
gegeben von , den tiefsten Gedanken -- und solch ein Werk soll man ehren.
Und auch politisch soll man es nicht gering anschlagen für die Förderung
kräftiger Empfindungen im Volke.

Doch, um auf die oben aufgestellte Frage wieder zurückzukommen, so
hat sich wohl gezeigt, daß Manches bei Wagner wirklich aus der Tiefe der
Seele kommt, und daß es Form gewinnt mit Hülfe einer Kraft, die der
eigentlichen Phantasie wenigstens nahe steht. Und das ist charakteristisch für
Wagner. Keine Dichtergabe besitzt er ganz, überall nur Stückwerk, großartig
zwar, aber nirgends ein Ganzes, Aehnliches wird sich auch ergeben, wenn
wir nun die Art seiner Charakterzeichnung betrachten. Wagner hat eine
Menge neuer und eigenthümlicher Erscheinungen auf die Bühne gebracht
Und unter diesen sind die gelungensten seine Nebenpersonen. Man er¬
wartet von denselben ja nicht mehr, als daß sie den Helden des Stückes in
die beabsichtigten Situationen bringen, und daß sie alsdann die Aufmerksam¬
keit für sich nicht weiter in Anspruch nehmen. Auf diesem Gebiete hat Wag¬
ner genug geleistet, indem er mit sicherer, häufig kühner Wahl statt eines
Menschen nur einen Begriff in Kostüm steckte. Die einmal gewählte Rolle
führt er dann consequent durch: Daland ist immer der berechnende Kaufmann,
Kurwenal der treue Gefolgsmann, Orsini heimtückisch, Telramund ritterlich
aber haltlos und schwach. Ja, er hat noch mehr gethan, und wenigstens
eine Figur geschaffen, welche aus dem Range einer Nebenperson nicht her¬
austritt und sich dennoch als eine lebendige, kräftige Individualität zeigt:
Ortrud. Soweit der enge Raum eines Opernbuches es gestattet, ist sie vor¬
trefflich charakterisirt. Der letzte Sproß aus altem Fürstenhause, unterthänig
einem, neu emporgekommenen Geschlecht, daher in ihrer ganzen Seele verbit¬
tert : Spott und Tadelsucht in ihrem Wesen; mit einem Wortspiel höhnt sie
ihren besiegten Gatten: "Friedreicher Graf v. Telramund!" Dazu ihre Ver¬
stellung, die erheuchelte Demuth, aus welcher doch der alte Stolz wieder her¬
vorbricht ("Wie kann ich solche Huld dir lohnen?"); endlich ihr Glaube an


fassungslos. Damit schließt der Act. Das ganze Gefühl eines furchtbaren
Schicksals muß den durchdringen, der sich in dieses ergreifende Gebilde ver¬
tieft. Gegen das gesammte Werk läßt sich gar unendlich viel einwenden,
aber schwerlich etwas gegen den ersten Aufzug. Auf alle Fälle wäre es
Pflicht der größeren deutschen Bühnen, diese Schöpfung dem Publikum nicht
länger vorzuenthalten. Wozu der öde, triste Holländers Wozu der selbstge¬
fällige, lärmende Rienzi? Wozu die Meistersinger mit ihrer angestrengten
Komik? Tristan und Isolde — das Werk mag Mängel haben, so viel man
will, es mag einer grundfalschen Lebensanschauung huldigen, aber es ist ein
Werk von ureigenster Kraft, durchdrungen von den mächtigsten Gefühlen, ein¬
gegeben von , den tiefsten Gedanken — und solch ein Werk soll man ehren.
Und auch politisch soll man es nicht gering anschlagen für die Förderung
kräftiger Empfindungen im Volke.

Doch, um auf die oben aufgestellte Frage wieder zurückzukommen, so
hat sich wohl gezeigt, daß Manches bei Wagner wirklich aus der Tiefe der
Seele kommt, und daß es Form gewinnt mit Hülfe einer Kraft, die der
eigentlichen Phantasie wenigstens nahe steht. Und das ist charakteristisch für
Wagner. Keine Dichtergabe besitzt er ganz, überall nur Stückwerk, großartig
zwar, aber nirgends ein Ganzes, Aehnliches wird sich auch ergeben, wenn
wir nun die Art seiner Charakterzeichnung betrachten. Wagner hat eine
Menge neuer und eigenthümlicher Erscheinungen auf die Bühne gebracht
Und unter diesen sind die gelungensten seine Nebenpersonen. Man er¬
wartet von denselben ja nicht mehr, als daß sie den Helden des Stückes in
die beabsichtigten Situationen bringen, und daß sie alsdann die Aufmerksam¬
keit für sich nicht weiter in Anspruch nehmen. Auf diesem Gebiete hat Wag¬
ner genug geleistet, indem er mit sicherer, häufig kühner Wahl statt eines
Menschen nur einen Begriff in Kostüm steckte. Die einmal gewählte Rolle
führt er dann consequent durch: Daland ist immer der berechnende Kaufmann,
Kurwenal der treue Gefolgsmann, Orsini heimtückisch, Telramund ritterlich
aber haltlos und schwach. Ja, er hat noch mehr gethan, und wenigstens
eine Figur geschaffen, welche aus dem Range einer Nebenperson nicht her¬
austritt und sich dennoch als eine lebendige, kräftige Individualität zeigt:
Ortrud. Soweit der enge Raum eines Opernbuches es gestattet, ist sie vor¬
trefflich charakterisirt. Der letzte Sproß aus altem Fürstenhause, unterthänig
einem, neu emporgekommenen Geschlecht, daher in ihrer ganzen Seele verbit¬
tert : Spott und Tadelsucht in ihrem Wesen; mit einem Wortspiel höhnt sie
ihren besiegten Gatten: „Friedreicher Graf v. Telramund!« Dazu ihre Ver¬
stellung, die erheuchelte Demuth, aus welcher doch der alte Stolz wieder her¬
vorbricht („Wie kann ich solche Huld dir lohnen?"); endlich ihr Glaube an


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[0229] fassungslos. Damit schließt der Act. Das ganze Gefühl eines furchtbaren Schicksals muß den durchdringen, der sich in dieses ergreifende Gebilde ver¬ tieft. Gegen das gesammte Werk läßt sich gar unendlich viel einwenden, aber schwerlich etwas gegen den ersten Aufzug. Auf alle Fälle wäre es Pflicht der größeren deutschen Bühnen, diese Schöpfung dem Publikum nicht länger vorzuenthalten. Wozu der öde, triste Holländers Wozu der selbstge¬ fällige, lärmende Rienzi? Wozu die Meistersinger mit ihrer angestrengten Komik? Tristan und Isolde — das Werk mag Mängel haben, so viel man will, es mag einer grundfalschen Lebensanschauung huldigen, aber es ist ein Werk von ureigenster Kraft, durchdrungen von den mächtigsten Gefühlen, ein¬ gegeben von , den tiefsten Gedanken — und solch ein Werk soll man ehren. Und auch politisch soll man es nicht gering anschlagen für die Förderung kräftiger Empfindungen im Volke. Doch, um auf die oben aufgestellte Frage wieder zurückzukommen, so hat sich wohl gezeigt, daß Manches bei Wagner wirklich aus der Tiefe der Seele kommt, und daß es Form gewinnt mit Hülfe einer Kraft, die der eigentlichen Phantasie wenigstens nahe steht. Und das ist charakteristisch für Wagner. Keine Dichtergabe besitzt er ganz, überall nur Stückwerk, großartig zwar, aber nirgends ein Ganzes, Aehnliches wird sich auch ergeben, wenn wir nun die Art seiner Charakterzeichnung betrachten. Wagner hat eine Menge neuer und eigenthümlicher Erscheinungen auf die Bühne gebracht Und unter diesen sind die gelungensten seine Nebenpersonen. Man er¬ wartet von denselben ja nicht mehr, als daß sie den Helden des Stückes in die beabsichtigten Situationen bringen, und daß sie alsdann die Aufmerksam¬ keit für sich nicht weiter in Anspruch nehmen. Auf diesem Gebiete hat Wag¬ ner genug geleistet, indem er mit sicherer, häufig kühner Wahl statt eines Menschen nur einen Begriff in Kostüm steckte. Die einmal gewählte Rolle führt er dann consequent durch: Daland ist immer der berechnende Kaufmann, Kurwenal der treue Gefolgsmann, Orsini heimtückisch, Telramund ritterlich aber haltlos und schwach. Ja, er hat noch mehr gethan, und wenigstens eine Figur geschaffen, welche aus dem Range einer Nebenperson nicht her¬ austritt und sich dennoch als eine lebendige, kräftige Individualität zeigt: Ortrud. Soweit der enge Raum eines Opernbuches es gestattet, ist sie vor¬ trefflich charakterisirt. Der letzte Sproß aus altem Fürstenhause, unterthänig einem, neu emporgekommenen Geschlecht, daher in ihrer ganzen Seele verbit¬ tert : Spott und Tadelsucht in ihrem Wesen; mit einem Wortspiel höhnt sie ihren besiegten Gatten: „Friedreicher Graf v. Telramund!« Dazu ihre Ver¬ stellung, die erheuchelte Demuth, aus welcher doch der alte Stolz wieder her¬ vorbricht („Wie kann ich solche Huld dir lohnen?"); endlich ihr Glaube an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/229>, abgerufen am 27.05.2024.