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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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er nirgends aus freiem Willen, sondern immer aus übermächtigen Antriebe
handelt. Indem er die Venus verläßt, thut er es nicht in klarer Erkenntniß
seiner Sündhaftigkeit, nicht aus Reuegefühl ("Nie war mein Lieben größer,
niemals wahrer als jetzt, da ich für ewig Dich muß fliehn l"), sondern er
geht, weil ihn die Erinnerung an die Oberwelt, die Sonne und "des Himmels
freundliche Gestirne" mit Macht ergreift. Ja, er selbst erkennt seine Flucht
als Naturnothwendigkeit: "Wenn stets ein Gott genießen kann, bin ich dem
Wechsel Unterthan." Wenn er gleich darauf seinen Vorsatz einer Wallfahrt
aufgiebt und zu Elisabeth zurückkehrt, wenn er später wieder nach der andern
Seite schwankt und die sündige Liebe verherrlicht -- immer steht er unter
dem Banne des Affectes. Und schließlich seine Bekehrung -- er stirbt zum
Glück, denn wer weiß, ob sie sonst seine letzte gewesen wäre! -- diese Umkehr
zu der christlichen Religion, so gar nicht vorbereitet wie sie ist, scheint eher die
Wirkung des Zauberwortes "Elisabeth" als die Folge freier Entschließung
zu sein.

Elisabeth ist zu Tanhäuser das würdige Seitenstück: im höchsten Grade
einseitig, wie er, derart, daß ihr ganzer und einziger Gedanke ihre Liebe ist,
und ebenso unfrei in ihren Handlungen. Von ihrer Leidenschaft, die sich
allerdings im Verlaufe der Ereignisse immer mehr abklärt, wird sie völlig
beherrscht. Sie hängt an Tanhäuser, obwol er sie verschmäht; den Unwür¬
digen zu retten bringt sie sich selbst zum Opfer, und bricht obendrein dem
treuen Wolfram das Herz. Die Unnatur dieser Erscheinung fühlt man zwar
meistens heraus, aber inmitten der ganzen verschrobenen Handlung kommt sie
lange nicht so deutlich zum Bewußtsein, wie zu wünschen wäre. Erst wenn
sie aus ihrer Umgebung losgelöst und an ähnlichen Gestalten der Literatur
gemessen wird, bemerkt man gänzlich die Mißgestalt dieser Figur. Die weid
liebe Liebe und Treue reicht ja allerdings unendlich weit; aber wenn sie
schließlich einen Gipfel erreichen soll, auf dem man sie nur noch als Liebes¬
wahnsinn bezeichnen kann, so müssen wir sie allmählig bis auf diese Stufe
hinausbegleiten. In dieser Hinsicht könnte man als ein Muster die Juliette
der George Sand vergleichen (Le'one Löoni). Oder aber, wenn der Dichter
uns sofort eine rücksichtslose, unbeschränkte junge Liebe zeigen will, so muß
er auch sofort anerkennen, daß hier ein geheimnißvolles Verhängniß walte --
wie es so meisterhaft gleich im ersten Anfange des Katheders von Heilbronn
geschieht. Eine Elisabeth aber, deren erstes Auftreten Jubel über die Rückkehr
des treulosen Geliebten ist, welche die schwerste Beleidigung ohne Klage von
ihm hinnimmt, welche die Rettung des Nichtswürdigen sich zur Aufgabe ihres
Lebens setzt -- ein solches Wesen mag möglich sein, sicherlich aber ist es un¬
wahrscheinlich und daher unbrauchbar für die Absichten der Tragödie.

Man glaube aber nicht, daß die Gestalt der Elisabeth und die ihrer


Grmjvotm l. 1874. 29

er nirgends aus freiem Willen, sondern immer aus übermächtigen Antriebe
handelt. Indem er die Venus verläßt, thut er es nicht in klarer Erkenntniß
seiner Sündhaftigkeit, nicht aus Reuegefühl („Nie war mein Lieben größer,
niemals wahrer als jetzt, da ich für ewig Dich muß fliehn l"), sondern er
geht, weil ihn die Erinnerung an die Oberwelt, die Sonne und „des Himmels
freundliche Gestirne" mit Macht ergreift. Ja, er selbst erkennt seine Flucht
als Naturnothwendigkeit: „Wenn stets ein Gott genießen kann, bin ich dem
Wechsel Unterthan." Wenn er gleich darauf seinen Vorsatz einer Wallfahrt
aufgiebt und zu Elisabeth zurückkehrt, wenn er später wieder nach der andern
Seite schwankt und die sündige Liebe verherrlicht — immer steht er unter
dem Banne des Affectes. Und schließlich seine Bekehrung — er stirbt zum
Glück, denn wer weiß, ob sie sonst seine letzte gewesen wäre! — diese Umkehr
zu der christlichen Religion, so gar nicht vorbereitet wie sie ist, scheint eher die
Wirkung des Zauberwortes „Elisabeth" als die Folge freier Entschließung
zu sein.

Elisabeth ist zu Tanhäuser das würdige Seitenstück: im höchsten Grade
einseitig, wie er, derart, daß ihr ganzer und einziger Gedanke ihre Liebe ist,
und ebenso unfrei in ihren Handlungen. Von ihrer Leidenschaft, die sich
allerdings im Verlaufe der Ereignisse immer mehr abklärt, wird sie völlig
beherrscht. Sie hängt an Tanhäuser, obwol er sie verschmäht; den Unwür¬
digen zu retten bringt sie sich selbst zum Opfer, und bricht obendrein dem
treuen Wolfram das Herz. Die Unnatur dieser Erscheinung fühlt man zwar
meistens heraus, aber inmitten der ganzen verschrobenen Handlung kommt sie
lange nicht so deutlich zum Bewußtsein, wie zu wünschen wäre. Erst wenn
sie aus ihrer Umgebung losgelöst und an ähnlichen Gestalten der Literatur
gemessen wird, bemerkt man gänzlich die Mißgestalt dieser Figur. Die weid
liebe Liebe und Treue reicht ja allerdings unendlich weit; aber wenn sie
schließlich einen Gipfel erreichen soll, auf dem man sie nur noch als Liebes¬
wahnsinn bezeichnen kann, so müssen wir sie allmählig bis auf diese Stufe
hinausbegleiten. In dieser Hinsicht könnte man als ein Muster die Juliette
der George Sand vergleichen (Le'one Löoni). Oder aber, wenn der Dichter
uns sofort eine rücksichtslose, unbeschränkte junge Liebe zeigen will, so muß
er auch sofort anerkennen, daß hier ein geheimnißvolles Verhängniß walte —
wie es so meisterhaft gleich im ersten Anfange des Katheders von Heilbronn
geschieht. Eine Elisabeth aber, deren erstes Auftreten Jubel über die Rückkehr
des treulosen Geliebten ist, welche die schwerste Beleidigung ohne Klage von
ihm hinnimmt, welche die Rettung des Nichtswürdigen sich zur Aufgabe ihres
Lebens setzt — ein solches Wesen mag möglich sein, sicherlich aber ist es un¬
wahrscheinlich und daher unbrauchbar für die Absichten der Tragödie.

Man glaube aber nicht, daß die Gestalt der Elisabeth und die ihrer


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[0231] er nirgends aus freiem Willen, sondern immer aus übermächtigen Antriebe handelt. Indem er die Venus verläßt, thut er es nicht in klarer Erkenntniß seiner Sündhaftigkeit, nicht aus Reuegefühl („Nie war mein Lieben größer, niemals wahrer als jetzt, da ich für ewig Dich muß fliehn l"), sondern er geht, weil ihn die Erinnerung an die Oberwelt, die Sonne und „des Himmels freundliche Gestirne" mit Macht ergreift. Ja, er selbst erkennt seine Flucht als Naturnothwendigkeit: „Wenn stets ein Gott genießen kann, bin ich dem Wechsel Unterthan." Wenn er gleich darauf seinen Vorsatz einer Wallfahrt aufgiebt und zu Elisabeth zurückkehrt, wenn er später wieder nach der andern Seite schwankt und die sündige Liebe verherrlicht — immer steht er unter dem Banne des Affectes. Und schließlich seine Bekehrung — er stirbt zum Glück, denn wer weiß, ob sie sonst seine letzte gewesen wäre! — diese Umkehr zu der christlichen Religion, so gar nicht vorbereitet wie sie ist, scheint eher die Wirkung des Zauberwortes „Elisabeth" als die Folge freier Entschließung zu sein. Elisabeth ist zu Tanhäuser das würdige Seitenstück: im höchsten Grade einseitig, wie er, derart, daß ihr ganzer und einziger Gedanke ihre Liebe ist, und ebenso unfrei in ihren Handlungen. Von ihrer Leidenschaft, die sich allerdings im Verlaufe der Ereignisse immer mehr abklärt, wird sie völlig beherrscht. Sie hängt an Tanhäuser, obwol er sie verschmäht; den Unwür¬ digen zu retten bringt sie sich selbst zum Opfer, und bricht obendrein dem treuen Wolfram das Herz. Die Unnatur dieser Erscheinung fühlt man zwar meistens heraus, aber inmitten der ganzen verschrobenen Handlung kommt sie lange nicht so deutlich zum Bewußtsein, wie zu wünschen wäre. Erst wenn sie aus ihrer Umgebung losgelöst und an ähnlichen Gestalten der Literatur gemessen wird, bemerkt man gänzlich die Mißgestalt dieser Figur. Die weid liebe Liebe und Treue reicht ja allerdings unendlich weit; aber wenn sie schließlich einen Gipfel erreichen soll, auf dem man sie nur noch als Liebes¬ wahnsinn bezeichnen kann, so müssen wir sie allmählig bis auf diese Stufe hinausbegleiten. In dieser Hinsicht könnte man als ein Muster die Juliette der George Sand vergleichen (Le'one Löoni). Oder aber, wenn der Dichter uns sofort eine rücksichtslose, unbeschränkte junge Liebe zeigen will, so muß er auch sofort anerkennen, daß hier ein geheimnißvolles Verhängniß walte — wie es so meisterhaft gleich im ersten Anfange des Katheders von Heilbronn geschieht. Eine Elisabeth aber, deren erstes Auftreten Jubel über die Rückkehr des treulosen Geliebten ist, welche die schwerste Beleidigung ohne Klage von ihm hinnimmt, welche die Rettung des Nichtswürdigen sich zur Aufgabe ihres Lebens setzt — ein solches Wesen mag möglich sein, sicherlich aber ist es un¬ wahrscheinlich und daher unbrauchbar für die Absichten der Tragödie. Man glaube aber nicht, daß die Gestalt der Elisabeth und die ihrer Grmjvotm l. 1874. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/231>, abgerufen am 27.05.2024.