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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Schwestern (Scuta. Isolde) zufällig von Wagner so verzeichnet seien. Aus
einigen Abschnitten von "Oper und Drama" (S. 102 ff. u. S. 173 ff. der
zweiten Aufl.) kann man ersehen, mit welcher Sorgfalt sie nach einer gewissen
philosophischen Anschauung construirt sind. Das deutet auf eine Kriegserklä¬
rung Wagner's gegen den aristotelischen Endzweck der Tragödie: das seelen¬
reinigende Mitleid. Ausdrücklich hat er sich zwar, soviel dem Schreiber
bekannt, dagegen nicht ausgesprochen. Und noch weniger hat er selbständig
einen andern Zweck gesetzt. Dennoch thun wir vielleicht gut. in dem letzten
Abschnitte dieser Arbeit unsre Frage nicht so zu stellen: welchen Werth haben
Wagner's Dramen, gemessen an der Theorie des Aristoteles? sondern viel
allgemeiner, so: welches ist ihr Gedankengehalt, und welches ihr sittlicher
Werth?

Fremdartig, haben wir gesehen, ist der Gesammteindruck dieser Werke,
fremdartig sind in ihnen hundert Einzelheiten. Eine Menge von Vorstellungen
ist darin enthalten, die vor Zeiten vielleicht einmal kräftig und gehaltvoll
waren, heutzutage aber bei unserm Publikum keinen Anklang mehr finden.
Das eine Mal will der Dichter uns einreden, die Liebe sei ein lauterer
Brunnen, den man anbeten müsse, aus dem man aber nicht schöpfen dürfe:
das Lied Walther's im Tanhäuser. Walther von der Vogelweide hat --
wie doch bekannt ist! -- so nicht gedacht, und das moderne Publikum findet
in dieser Uebertreibung eine thörichte Askese. Das andre Mal lobt er uns
eine Treue, die sicherlich unsern Anschauungen nicht mehr entspricht. Tristan
rühmt den Kurwenal folgendermaßen:


Wen ich gehaßt, den haßtest Du,
Wen ich gewinnt, den minntest Du,
Dem guten Marke, dient' ich ihm hold.
Wie warst Du ihm treuer als Gold!
Mußt ich verrathen den edlen Herrn,
Wie betrogst Du ihn da so gern. U. s. f.

Das dritte Mal -- wir waren im Begriff, die Blutrache im ersten Acte
desselben Dramas und im Rienzi anzuführen. Aber wer möchte die unmo¬
dernen Kleinigkeiten in Wagner's Werken alle besprechen! Beschäftigen wir
uns lieber mit dem Inhalte der Tragödien im Großen und Ganzen.
Versuchen wir zu ermitteln, welches ihre didaktische Absicht ist; denn daß
eine solche vorhanden, muß und darf man von dem Reformator doch
annehmen



") Von der "Literaturpoesie" (Schiller, Goethe u. s. w.) sagt Wagner gelegentlich (Best,
der Oper S. Oper S. 19), daß sie sich stets dem Didactischen zuneige. Das "vereinigte
Kunstwerk" also etwa nicht?

Schwestern (Scuta. Isolde) zufällig von Wagner so verzeichnet seien. Aus
einigen Abschnitten von „Oper und Drama" (S. 102 ff. u. S. 173 ff. der
zweiten Aufl.) kann man ersehen, mit welcher Sorgfalt sie nach einer gewissen
philosophischen Anschauung construirt sind. Das deutet auf eine Kriegserklä¬
rung Wagner's gegen den aristotelischen Endzweck der Tragödie: das seelen¬
reinigende Mitleid. Ausdrücklich hat er sich zwar, soviel dem Schreiber
bekannt, dagegen nicht ausgesprochen. Und noch weniger hat er selbständig
einen andern Zweck gesetzt. Dennoch thun wir vielleicht gut. in dem letzten
Abschnitte dieser Arbeit unsre Frage nicht so zu stellen: welchen Werth haben
Wagner's Dramen, gemessen an der Theorie des Aristoteles? sondern viel
allgemeiner, so: welches ist ihr Gedankengehalt, und welches ihr sittlicher
Werth?

Fremdartig, haben wir gesehen, ist der Gesammteindruck dieser Werke,
fremdartig sind in ihnen hundert Einzelheiten. Eine Menge von Vorstellungen
ist darin enthalten, die vor Zeiten vielleicht einmal kräftig und gehaltvoll
waren, heutzutage aber bei unserm Publikum keinen Anklang mehr finden.
Das eine Mal will der Dichter uns einreden, die Liebe sei ein lauterer
Brunnen, den man anbeten müsse, aus dem man aber nicht schöpfen dürfe:
das Lied Walther's im Tanhäuser. Walther von der Vogelweide hat —
wie doch bekannt ist! — so nicht gedacht, und das moderne Publikum findet
in dieser Uebertreibung eine thörichte Askese. Das andre Mal lobt er uns
eine Treue, die sicherlich unsern Anschauungen nicht mehr entspricht. Tristan
rühmt den Kurwenal folgendermaßen:


Wen ich gehaßt, den haßtest Du,
Wen ich gewinnt, den minntest Du,
Dem guten Marke, dient' ich ihm hold.
Wie warst Du ihm treuer als Gold!
Mußt ich verrathen den edlen Herrn,
Wie betrogst Du ihn da so gern. U. s. f.

Das dritte Mal — wir waren im Begriff, die Blutrache im ersten Acte
desselben Dramas und im Rienzi anzuführen. Aber wer möchte die unmo¬
dernen Kleinigkeiten in Wagner's Werken alle besprechen! Beschäftigen wir
uns lieber mit dem Inhalte der Tragödien im Großen und Ganzen.
Versuchen wir zu ermitteln, welches ihre didaktische Absicht ist; denn daß
eine solche vorhanden, muß und darf man von dem Reformator doch
annehmen



") Von der „Literaturpoesie" (Schiller, Goethe u. s. w.) sagt Wagner gelegentlich (Best,
der Oper S. Oper S. 19), daß sie sich stets dem Didactischen zuneige. Das „vereinigte
Kunstwerk" also etwa nicht?
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[0232] Schwestern (Scuta. Isolde) zufällig von Wagner so verzeichnet seien. Aus einigen Abschnitten von „Oper und Drama" (S. 102 ff. u. S. 173 ff. der zweiten Aufl.) kann man ersehen, mit welcher Sorgfalt sie nach einer gewissen philosophischen Anschauung construirt sind. Das deutet auf eine Kriegserklä¬ rung Wagner's gegen den aristotelischen Endzweck der Tragödie: das seelen¬ reinigende Mitleid. Ausdrücklich hat er sich zwar, soviel dem Schreiber bekannt, dagegen nicht ausgesprochen. Und noch weniger hat er selbständig einen andern Zweck gesetzt. Dennoch thun wir vielleicht gut. in dem letzten Abschnitte dieser Arbeit unsre Frage nicht so zu stellen: welchen Werth haben Wagner's Dramen, gemessen an der Theorie des Aristoteles? sondern viel allgemeiner, so: welches ist ihr Gedankengehalt, und welches ihr sittlicher Werth? Fremdartig, haben wir gesehen, ist der Gesammteindruck dieser Werke, fremdartig sind in ihnen hundert Einzelheiten. Eine Menge von Vorstellungen ist darin enthalten, die vor Zeiten vielleicht einmal kräftig und gehaltvoll waren, heutzutage aber bei unserm Publikum keinen Anklang mehr finden. Das eine Mal will der Dichter uns einreden, die Liebe sei ein lauterer Brunnen, den man anbeten müsse, aus dem man aber nicht schöpfen dürfe: das Lied Walther's im Tanhäuser. Walther von der Vogelweide hat — wie doch bekannt ist! — so nicht gedacht, und das moderne Publikum findet in dieser Uebertreibung eine thörichte Askese. Das andre Mal lobt er uns eine Treue, die sicherlich unsern Anschauungen nicht mehr entspricht. Tristan rühmt den Kurwenal folgendermaßen: Wen ich gehaßt, den haßtest Du, Wen ich gewinnt, den minntest Du, Dem guten Marke, dient' ich ihm hold. Wie warst Du ihm treuer als Gold! Mußt ich verrathen den edlen Herrn, Wie betrogst Du ihn da so gern. U. s. f. Das dritte Mal — wir waren im Begriff, die Blutrache im ersten Acte desselben Dramas und im Rienzi anzuführen. Aber wer möchte die unmo¬ dernen Kleinigkeiten in Wagner's Werken alle besprechen! Beschäftigen wir uns lieber mit dem Inhalte der Tragödien im Großen und Ganzen. Versuchen wir zu ermitteln, welches ihre didaktische Absicht ist; denn daß eine solche vorhanden, muß und darf man von dem Reformator doch annehmen ") Von der „Literaturpoesie" (Schiller, Goethe u. s. w.) sagt Wagner gelegentlich (Best, der Oper S. Oper S. 19), daß sie sich stets dem Didactischen zuneige. Das „vereinigte Kunstwerk" also etwa nicht?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/232>, abgerufen am 06.06.2024.