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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Ist denn durch diese Veränderungen irgend etwas gewonnen worden?
Uns will es nicht so scheinen. Tanhäuser hat sich noch einmal in giganten¬
hafter Auflehnung gegen die Religion gewendet und gleich darauf sich ihr
demüthig wieder unterworfen. Damit schließt die Oper. Und das Facit
von dem Allen? Daß der Mensch ein schwaches, gebrechliches Wesen, daß er
sich nicht selber zu höherer Vollkommenheit heraufarbeiten könne, daß ihm
nur eine Bitte an das Schicksal übrig bleibe. Klingt das nicht wie der
Predigttext eines Zeloten? Ist es denn wahr, was der Tanhäuser predigt,
daß die ernsteste Reue den Menschen nicht innerlich befreien könne, daß er des
äußeren Zeichens bedürfe! Und wenn es denn wahr wäre, ist es darum Auf¬
gabe der Kunst, uns diese trostlosen Wahrheiten zu enthüllen? O, daß dies
Alles gesagt werden muß! daß der große Name des Compovisten und die seltene
Begabung einiger Sänger, Opern wie diese noch immer aufrecht erhält!
Weil das Gedicht ja "nur ein Operntext" ist, deswegen nimmt man es nicht
genau mit ihm, und allmählig verbreiten Hunderte von Aufführungen unbe¬
merkt die unnatürlichsten und verderblichsten aller Gedanken. --

Ganz anders steht es mit Tristan und Isolde. Der Seelenkampf
im ersten Acte ist menschlich wahr und eben deswegen erschütternd. Zwei
ernste, große und edel angelegte Charaktere sind Helden der Handlung. Im
ersten Acte zeigen sie sich als wirkliche Menschen, welche, wie wir andern auch,
von verschiedenen Leidenschaften hin- und hergertssen werden. Verlaufe sich
diese scharfe Charakteristik später in philosophische Schablone, so gereicht das
diesmal dem Dichter nur zum Vortheil. Der Stoff ist durch und durch alle¬
gorisch, was der Tanhäuser keineswegs ist und auch bei Wagner nur stellen¬
weise sein soll. Und in dieser Allegorie steckt eine tiefe Wahrheit. Wenn
Tristan in düsterer Verzweiflung der heißgeliebten Feindin sein Schwert reicht,
ihn zu tödten, wenn Isolde lieber den Untergang wählt als den Königs¬
thron und die Schmach, und wenn dann die gemeine Menschenklugheit der
Dienerin statt des Giftes ihnen den Liebestrank reicht -- wer fühlt hier nicht
die ganze Furchtbarkeit des Irdischen im Menschen! Bis zu diesem Punkte
kann Niemand mit Wagner streiten. Der Fortgang der Sage allerdings
läßt sich doppelt auffassen, und von hier ab werden auch die Kunsturtheile
über das Drama auseinandergehn. Unsere Ansicht ist in Kürze folgende:
Isolde und Tristan haben gegen das Schicksal gerungen, so lange ihre Kräfte
ausreichten; aber sie sind besiegt, und wenn sie nun, in Leidenschaft entbrannt,
Pflicht und Ehre verletzen, den Tag und die Späher des Königs nicht scheuen,
so haben sie Recht für ihre Personen. Aber sie haben Unrecht gegenüber der
tausendjährigen Ordnung der Sitte, Unrecht gegenüber der Welt, die sie um¬
giebt. Durch ihren Untergang müssen sie bekennen, daß die ethische Idee,
welche die Welt durchdrtr.gr, größer und höher ist als ihre Leidenschaft. Und


Ist denn durch diese Veränderungen irgend etwas gewonnen worden?
Uns will es nicht so scheinen. Tanhäuser hat sich noch einmal in giganten¬
hafter Auflehnung gegen die Religion gewendet und gleich darauf sich ihr
demüthig wieder unterworfen. Damit schließt die Oper. Und das Facit
von dem Allen? Daß der Mensch ein schwaches, gebrechliches Wesen, daß er
sich nicht selber zu höherer Vollkommenheit heraufarbeiten könne, daß ihm
nur eine Bitte an das Schicksal übrig bleibe. Klingt das nicht wie der
Predigttext eines Zeloten? Ist es denn wahr, was der Tanhäuser predigt,
daß die ernsteste Reue den Menschen nicht innerlich befreien könne, daß er des
äußeren Zeichens bedürfe! Und wenn es denn wahr wäre, ist es darum Auf¬
gabe der Kunst, uns diese trostlosen Wahrheiten zu enthüllen? O, daß dies
Alles gesagt werden muß! daß der große Name des Compovisten und die seltene
Begabung einiger Sänger, Opern wie diese noch immer aufrecht erhält!
Weil das Gedicht ja „nur ein Operntext" ist, deswegen nimmt man es nicht
genau mit ihm, und allmählig verbreiten Hunderte von Aufführungen unbe¬
merkt die unnatürlichsten und verderblichsten aller Gedanken. —

Ganz anders steht es mit Tristan und Isolde. Der Seelenkampf
im ersten Acte ist menschlich wahr und eben deswegen erschütternd. Zwei
ernste, große und edel angelegte Charaktere sind Helden der Handlung. Im
ersten Acte zeigen sie sich als wirkliche Menschen, welche, wie wir andern auch,
von verschiedenen Leidenschaften hin- und hergertssen werden. Verlaufe sich
diese scharfe Charakteristik später in philosophische Schablone, so gereicht das
diesmal dem Dichter nur zum Vortheil. Der Stoff ist durch und durch alle¬
gorisch, was der Tanhäuser keineswegs ist und auch bei Wagner nur stellen¬
weise sein soll. Und in dieser Allegorie steckt eine tiefe Wahrheit. Wenn
Tristan in düsterer Verzweiflung der heißgeliebten Feindin sein Schwert reicht,
ihn zu tödten, wenn Isolde lieber den Untergang wählt als den Königs¬
thron und die Schmach, und wenn dann die gemeine Menschenklugheit der
Dienerin statt des Giftes ihnen den Liebestrank reicht — wer fühlt hier nicht
die ganze Furchtbarkeit des Irdischen im Menschen! Bis zu diesem Punkte
kann Niemand mit Wagner streiten. Der Fortgang der Sage allerdings
läßt sich doppelt auffassen, und von hier ab werden auch die Kunsturtheile
über das Drama auseinandergehn. Unsere Ansicht ist in Kürze folgende:
Isolde und Tristan haben gegen das Schicksal gerungen, so lange ihre Kräfte
ausreichten; aber sie sind besiegt, und wenn sie nun, in Leidenschaft entbrannt,
Pflicht und Ehre verletzen, den Tag und die Späher des Königs nicht scheuen,
so haben sie Recht für ihre Personen. Aber sie haben Unrecht gegenüber der
tausendjährigen Ordnung der Sitte, Unrecht gegenüber der Welt, die sie um¬
giebt. Durch ihren Untergang müssen sie bekennen, daß die ethische Idee,
welche die Welt durchdrtr.gr, größer und höher ist als ihre Leidenschaft. Und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/235>, abgerufen am 23.05.2024.