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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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möglichen Variationen hier durchgeführte Thema der idealen Freundschaft auf
den heutigen Leser, wenn er, wie recht und billig, ganz ein Kind seiner
Jetztzeit ist, nur unterhaltend und wohlthuend wirken. Werden doch deshalb
an ihn keine solchen extravaganten Ansprüche gemacht und er selbst denkt
nicht daran, sie an irgend jemand anders, sei es ein Er oder eine Sie, zu
machen. In der überreichen Literatur, worin sich jene eigenthümliche Phase
des damaligen Seelenlebens auf die Nachwelt vererbt hat, dürfte man kaum
einer andern Gestalt begegnen, die durch den Verein des feurigsten
Enthusiasmus mit der zartesten Weiblichkeit einen so anmuthigen Eindruck
hinterließe, wie diese wahre Künstlerin vielmehr noch in der Führung des
eigenen Lebens und der Darstellung der eigenen Persönlichkeit, als auf der
Leinwand oder mit dem Farbenstifte.

Es giebt glücklicherweise immer noch genug Leute unter denen, welche
Bücher zu lesen pflegen, die es gelegentlich zu ihrer bloßen Seelenerquickung
thun mögen. Für sie wäre das, was wir bisher von der Beschaffenheit des
Buches oder seines Gegenstandes gesagt haben, wie uns dünkt, genug, um
es mit Antheil in die Hand zu nehmen und vollkommen befriedigt davon zu
scheiden. Aber auch für die anderen, welchen eine solche Kost etwa zu sublim
oder zu einfach wäre, ist überreich gesorgt. Zuerst durch die zahlreichen
Erinnerungen, die sich auf eine Menge Sterne erster und zweiter Größe
während der glänzendsten Zeit unserer klassischen Periode beziehen und theil¬
weise sogar für unsere systematische Literatur- und Culturgeschichtsforschung
lehrreiche Erwerbungen geben. Vor allem ist es die Centralsonne Goethe
selbst, deren Strahlen fast von Anfang bis zu Ende immer wieder durch¬
brechen, wenn sie auch einmal zeitweise vom Horizont verschwunden zu sein
scheinen. Eine Fülle bisher unbekannter Briefe und Billete von seiner Hand,
oder auch von der seines Riemer und anderen Secretaire läßt, zwar nicht
eigentlich neue oder überraschende Blicke in das innerste Getriebe seines
eigentlichen dichterischen Producirens thun, dient aber doch trefflich dazu, die
äußere Situation, Menschen und Zustände um ihn herum, und insofern auch
auf sein Schaffen von Einfluß, in klareren Zügen hervortreten zu lassen.
Aber auch davon abgesehen, ist jedes neuauftauchende Blatt von Goethe's
Hand eine Gabe, die durch sich selbst und ihr eigenes, immer nicht geringes
Gewicht, auch dann wenn sie nach dem Maßstabe anderer gemessen, gering¬
fügig zu nennen wäre, dem der sie bringt, Anspruch auf den Dank der
Nachwelt und unserer Nation erwirbt. So dürften auch diese neuen Schrift¬
stücke, obwohl manche von ihnen in einer behaglichen Breite freundschaftlicher
Plauderei sich ergehen und alle, selbst die spätesten kaum eine Spur von der
abgezirkelten Steifheit des Geheimerathsstils zeigen, nicht zu denen gehören,
die man besonders gehaltvoll nennen würde. Auch drehen sie sich, wenn


möglichen Variationen hier durchgeführte Thema der idealen Freundschaft auf
den heutigen Leser, wenn er, wie recht und billig, ganz ein Kind seiner
Jetztzeit ist, nur unterhaltend und wohlthuend wirken. Werden doch deshalb
an ihn keine solchen extravaganten Ansprüche gemacht und er selbst denkt
nicht daran, sie an irgend jemand anders, sei es ein Er oder eine Sie, zu
machen. In der überreichen Literatur, worin sich jene eigenthümliche Phase
des damaligen Seelenlebens auf die Nachwelt vererbt hat, dürfte man kaum
einer andern Gestalt begegnen, die durch den Verein des feurigsten
Enthusiasmus mit der zartesten Weiblichkeit einen so anmuthigen Eindruck
hinterließe, wie diese wahre Künstlerin vielmehr noch in der Führung des
eigenen Lebens und der Darstellung der eigenen Persönlichkeit, als auf der
Leinwand oder mit dem Farbenstifte.

Es giebt glücklicherweise immer noch genug Leute unter denen, welche
Bücher zu lesen pflegen, die es gelegentlich zu ihrer bloßen Seelenerquickung
thun mögen. Für sie wäre das, was wir bisher von der Beschaffenheit des
Buches oder seines Gegenstandes gesagt haben, wie uns dünkt, genug, um
es mit Antheil in die Hand zu nehmen und vollkommen befriedigt davon zu
scheiden. Aber auch für die anderen, welchen eine solche Kost etwa zu sublim
oder zu einfach wäre, ist überreich gesorgt. Zuerst durch die zahlreichen
Erinnerungen, die sich auf eine Menge Sterne erster und zweiter Größe
während der glänzendsten Zeit unserer klassischen Periode beziehen und theil¬
weise sogar für unsere systematische Literatur- und Culturgeschichtsforschung
lehrreiche Erwerbungen geben. Vor allem ist es die Centralsonne Goethe
selbst, deren Strahlen fast von Anfang bis zu Ende immer wieder durch¬
brechen, wenn sie auch einmal zeitweise vom Horizont verschwunden zu sein
scheinen. Eine Fülle bisher unbekannter Briefe und Billete von seiner Hand,
oder auch von der seines Riemer und anderen Secretaire läßt, zwar nicht
eigentlich neue oder überraschende Blicke in das innerste Getriebe seines
eigentlichen dichterischen Producirens thun, dient aber doch trefflich dazu, die
äußere Situation, Menschen und Zustände um ihn herum, und insofern auch
auf sein Schaffen von Einfluß, in klareren Zügen hervortreten zu lassen.
Aber auch davon abgesehen, ist jedes neuauftauchende Blatt von Goethe's
Hand eine Gabe, die durch sich selbst und ihr eigenes, immer nicht geringes
Gewicht, auch dann wenn sie nach dem Maßstabe anderer gemessen, gering¬
fügig zu nennen wäre, dem der sie bringt, Anspruch auf den Dank der
Nachwelt und unserer Nation erwirbt. So dürften auch diese neuen Schrift¬
stücke, obwohl manche von ihnen in einer behaglichen Breite freundschaftlicher
Plauderei sich ergehen und alle, selbst die spätesten kaum eine Spur von der
abgezirkelten Steifheit des Geheimerathsstils zeigen, nicht zu denen gehören,
die man besonders gehaltvoll nennen würde. Auch drehen sie sich, wenn


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[0449] möglichen Variationen hier durchgeführte Thema der idealen Freundschaft auf den heutigen Leser, wenn er, wie recht und billig, ganz ein Kind seiner Jetztzeit ist, nur unterhaltend und wohlthuend wirken. Werden doch deshalb an ihn keine solchen extravaganten Ansprüche gemacht und er selbst denkt nicht daran, sie an irgend jemand anders, sei es ein Er oder eine Sie, zu machen. In der überreichen Literatur, worin sich jene eigenthümliche Phase des damaligen Seelenlebens auf die Nachwelt vererbt hat, dürfte man kaum einer andern Gestalt begegnen, die durch den Verein des feurigsten Enthusiasmus mit der zartesten Weiblichkeit einen so anmuthigen Eindruck hinterließe, wie diese wahre Künstlerin vielmehr noch in der Führung des eigenen Lebens und der Darstellung der eigenen Persönlichkeit, als auf der Leinwand oder mit dem Farbenstifte. Es giebt glücklicherweise immer noch genug Leute unter denen, welche Bücher zu lesen pflegen, die es gelegentlich zu ihrer bloßen Seelenerquickung thun mögen. Für sie wäre das, was wir bisher von der Beschaffenheit des Buches oder seines Gegenstandes gesagt haben, wie uns dünkt, genug, um es mit Antheil in die Hand zu nehmen und vollkommen befriedigt davon zu scheiden. Aber auch für die anderen, welchen eine solche Kost etwa zu sublim oder zu einfach wäre, ist überreich gesorgt. Zuerst durch die zahlreichen Erinnerungen, die sich auf eine Menge Sterne erster und zweiter Größe während der glänzendsten Zeit unserer klassischen Periode beziehen und theil¬ weise sogar für unsere systematische Literatur- und Culturgeschichtsforschung lehrreiche Erwerbungen geben. Vor allem ist es die Centralsonne Goethe selbst, deren Strahlen fast von Anfang bis zu Ende immer wieder durch¬ brechen, wenn sie auch einmal zeitweise vom Horizont verschwunden zu sein scheinen. Eine Fülle bisher unbekannter Briefe und Billete von seiner Hand, oder auch von der seines Riemer und anderen Secretaire läßt, zwar nicht eigentlich neue oder überraschende Blicke in das innerste Getriebe seines eigentlichen dichterischen Producirens thun, dient aber doch trefflich dazu, die äußere Situation, Menschen und Zustände um ihn herum, und insofern auch auf sein Schaffen von Einfluß, in klareren Zügen hervortreten zu lassen. Aber auch davon abgesehen, ist jedes neuauftauchende Blatt von Goethe's Hand eine Gabe, die durch sich selbst und ihr eigenes, immer nicht geringes Gewicht, auch dann wenn sie nach dem Maßstabe anderer gemessen, gering¬ fügig zu nennen wäre, dem der sie bringt, Anspruch auf den Dank der Nachwelt und unserer Nation erwirbt. So dürften auch diese neuen Schrift¬ stücke, obwohl manche von ihnen in einer behaglichen Breite freundschaftlicher Plauderei sich ergehen und alle, selbst die spätesten kaum eine Spur von der abgezirkelten Steifheit des Geheimerathsstils zeigen, nicht zu denen gehören, die man besonders gehaltvoll nennen würde. Auch drehen sie sich, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/449>, abgerufen am 05.06.2024.