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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Wendepunkt. Vorwiegend in die Hand der katholischen Bevölkerung ist es
gegeben, ob eine Wendung zum Guten oder zum Bösen, ob eine Verschärfung
oder eine allmähliche Abschwächung des kirchlich-politischen Kampfes von ihm
ausgehen soll. Zu welchem Ergebniß auch die Untersuchung führen möge,
die bis jetzt erhärteten Thatsachen lassen keinen Zweifel darüber, daß der
Mordanschlag gegen den Reichskanzler eine Frucht der gewissenlosen ultra¬
montanen Aufwiegelung gewesen ist. Und diese Thatsache ist von den ma߬
gebenden Organen des Ultramontanismus in Deutschland nicht einmal ge¬
leugnet, vielmehr als eine ganz natürliche Erscheinung dargestellt worden; ja
nach der Erklärung der "Germania" würde es gar nicht zu verwundern sein,
wenn Kullmann demnächst so lange Nachahmer fände, bis das Ziel erreicht
wäre. Dahin also sind wir bereits gelangt, daß die Schildknappen der rö¬
mischen Hierarchie in Deutschland den leitenden Staatsmännern mit der Kugel
des Meuchelmörders drohen dürfen, kurz, daß sie dem Staate "im Namen
des katholischen Volkes" die Alternative stellen: entweder Unterwerfung unter
unsere Herrschgelüste oder Krieg bis aufs Messer! Und das katholische Volk
Deutschlands, dasselbe Volk, welches vor vier Jahren im Kampfe gegen
Frankreich die schönsten Hoffnungen des Jesuitismus so tapfer vereiteln half,
es sollte sich heute zu Gunsten derselben Hoffnungen zur Auflehnung wider
die eigene Staatsgewalt, ja -- man täusche sich über die römischen End-
abstchten nicht! -- bis zum Bürgerkriege wider die eigenen Stammesgenossen
treiben lassen? Wohl wissen wir. daß eine große Zahl gebildeter Katholiken
diese Möglichkeit mit Abscheu zurückweist. Aber damit ist nicht geholfen.
Vor fünf Jahren hätte kein gebildeter Katholik in Deutschland die Erklärung
der Unfehlbarkeit für möglich gehalten; jetzt ist sie bereits vier Jahre lang
recipirtes Dogma. Vor einem Jahre noch wäre vielleicht jedem Gebildeten
die Besorgniß vor einem Religionskriege in dem neuen Deutschen Reiche
lächerlich erschienen; heute sehen wir den furchtbaren Abgrund vor Augen,
welchem die ultramontane Taktik zutreibt. Wahrhaftig kein Augenblick ist
Mehr zu verlieren! Tausende und aber Tausende einsichtsvoller Katholiken,
die den gesetzgeberischen Arbeiten der letzten Jahre mit Verständniß gefolgt
sind, wissen, daß der Staat sich nirgends auch nur den leisesten Eingriff in
das Gebiet des katholischen Glaubens erlaubt, sondern daß er nur be¬
rechtigte Nothwehr geübt hat gegenüber den Anmaßungen einer herrsch¬
süchtigen Priesterkaste. An ihnen ist es, nun endlich aus ihrer bequemen
Zurückhaltung herauszutreten und ihren irregeleiteten Confessionsgenossen die
Augen zu öffnen. Eine furchtbar schwere Verantwortung wird ihnen von der
Geschichte auf die Schultern gelegt; mögen sie derselben gerecht zu werden
verstehen! Uns Allen aber liegt es ob, wachsamer und opfermüthiger als je
zuvor in dem großen Kampfe der Gegenwart aus unserm Platze zu sein und


Wendepunkt. Vorwiegend in die Hand der katholischen Bevölkerung ist es
gegeben, ob eine Wendung zum Guten oder zum Bösen, ob eine Verschärfung
oder eine allmähliche Abschwächung des kirchlich-politischen Kampfes von ihm
ausgehen soll. Zu welchem Ergebniß auch die Untersuchung führen möge,
die bis jetzt erhärteten Thatsachen lassen keinen Zweifel darüber, daß der
Mordanschlag gegen den Reichskanzler eine Frucht der gewissenlosen ultra¬
montanen Aufwiegelung gewesen ist. Und diese Thatsache ist von den ma߬
gebenden Organen des Ultramontanismus in Deutschland nicht einmal ge¬
leugnet, vielmehr als eine ganz natürliche Erscheinung dargestellt worden; ja
nach der Erklärung der „Germania" würde es gar nicht zu verwundern sein,
wenn Kullmann demnächst so lange Nachahmer fände, bis das Ziel erreicht
wäre. Dahin also sind wir bereits gelangt, daß die Schildknappen der rö¬
mischen Hierarchie in Deutschland den leitenden Staatsmännern mit der Kugel
des Meuchelmörders drohen dürfen, kurz, daß sie dem Staate „im Namen
des katholischen Volkes" die Alternative stellen: entweder Unterwerfung unter
unsere Herrschgelüste oder Krieg bis aufs Messer! Und das katholische Volk
Deutschlands, dasselbe Volk, welches vor vier Jahren im Kampfe gegen
Frankreich die schönsten Hoffnungen des Jesuitismus so tapfer vereiteln half,
es sollte sich heute zu Gunsten derselben Hoffnungen zur Auflehnung wider
die eigene Staatsgewalt, ja — man täusche sich über die römischen End-
abstchten nicht! — bis zum Bürgerkriege wider die eigenen Stammesgenossen
treiben lassen? Wohl wissen wir. daß eine große Zahl gebildeter Katholiken
diese Möglichkeit mit Abscheu zurückweist. Aber damit ist nicht geholfen.
Vor fünf Jahren hätte kein gebildeter Katholik in Deutschland die Erklärung
der Unfehlbarkeit für möglich gehalten; jetzt ist sie bereits vier Jahre lang
recipirtes Dogma. Vor einem Jahre noch wäre vielleicht jedem Gebildeten
die Besorgniß vor einem Religionskriege in dem neuen Deutschen Reiche
lächerlich erschienen; heute sehen wir den furchtbaren Abgrund vor Augen,
welchem die ultramontane Taktik zutreibt. Wahrhaftig kein Augenblick ist
Mehr zu verlieren! Tausende und aber Tausende einsichtsvoller Katholiken,
die den gesetzgeberischen Arbeiten der letzten Jahre mit Verständniß gefolgt
sind, wissen, daß der Staat sich nirgends auch nur den leisesten Eingriff in
das Gebiet des katholischen Glaubens erlaubt, sondern daß er nur be¬
rechtigte Nothwehr geübt hat gegenüber den Anmaßungen einer herrsch¬
süchtigen Priesterkaste. An ihnen ist es, nun endlich aus ihrer bequemen
Zurückhaltung herauszutreten und ihren irregeleiteten Confessionsgenossen die
Augen zu öffnen. Eine furchtbar schwere Verantwortung wird ihnen von der
Geschichte auf die Schultern gelegt; mögen sie derselben gerecht zu werden
verstehen! Uns Allen aber liegt es ob, wachsamer und opfermüthiger als je
zuvor in dem großen Kampfe der Gegenwart aus unserm Platze zu sein und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/165>, abgerufen am 17.06.2024.