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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Deutschland ist dabei hinter fast allen übrigen Kulturländern in einer
unglaublichen Weise zurückgeblieben. Man ist anfänglich ganz bestürzt und
verdutzt, wenn man Zahlen liest wie folgende: Während England beinahe
1000, Frankreich S62 deutsche Meilen Kanäle gebaut hat, besitzt Preußen
-- 47! Die künstlichen Wasserstraßen von England, Frankreich, Belgien
und Holland betragen im Verhältniß 15 mal so viel wie die preußischen.
Und nicht etwa daß Preußen jenen Ländern gegenüber in einem Ueberschuß
an natürlichen Wasserwegen einen Ersatz fände: die Straßen dieser Gat¬
tung, welche England, Frankreich, Belgien und Holland besitzen, verhalten sich
durchschnittlich zu den preußischen wie 17:16. -- Wir haben hier eine der
vielen traurigen Folgen vor uns von der Armuth, der Unfreiheit und der
Zersplitterung, in denen wir Jahrhunderte lang gelebt haben. Die Armuth
hat die großen Hohenzollern verhindert, mehr zu thun, und die Unfreiheit
und die Zersplitterung waren die Ursachen, daß unter mittelmäßigen Regenten
nichts von alledem gefördert wurde, was jene bedeutenden Staatsmänner un¬
vollendet lassen mußten.

Lange Zeit haben wir unsern Mangel an Kanälen kaum empfunden.
Als seit den dreißiger Jahren Handel und Industrie den Flug begannen, den
sie jetzt bei uns glücklicherweise nehmen, da kamen bald darauf die Eisen¬
bahnen und monopolistrten das Interesse der Geschäftswelt. Waren sie doch
so schnell, so pünktlich, so unabhängig von Wind und Frost! Den Wasser¬
transport sah man daneben über die Achseln an.

Wenn das seitdem anders und besser geworden ist, so sind wir den
Dank dafür unseren Volkswirthen schuldig. Seit 1869 hat der damals von
Faucher gegründete "Verein zur Hebung der deutschen Kanal- und Flußschiff¬
fahrt" einen Umschwung in den landläufigen Ansichten herbeizuführen begon¬
nen. Ihm danken wir es, daß die Ueberzeugung von der Nothwen¬
digkeit eines Kanalnetzes wieder in das Volksb co ußts e i n
eindringt. Einen Maßstab für das Interesse, welches sich in den letzten
Jahren stetig wachsend dieser wichtigen Seite unserer wirthschaftlichen Ent¬
wicklung zugewandt hat, giebt die bedeutende Anzahl der Bücher, Flugschrif¬
ten, Abhandlungen und Vorträge, welche dem Gegenstand ganz oder theilweise
gewidmet wurden.*) Diese Schriften behandeln die Frage zum Theil aus
verschiedenen Gesichtspunkten: Meitzen und Inspektor Michaelis gehen mehr
auf das Technische ein, Wiß hat vorzugsweise die amerikanischen Verhält¬
nisse im Auge, Karl Müller in Halle empfiehlt die Pflege der Wälder und



") U. a. drei Aufsätze in Fauchcr's Vierteljahrsschrift, von Perrot, Wasserbauinspector
Michaelis und E. Wiß; ein Essay von Perrot, in dessen "Deutscher Monatsschrift für Handel,
Schifffahrt und Verkehrswesen"; ein anderer in Perrot's "Zur Geschichte des Verkehrswesens";
ein Aufsatz von Karl Müller in Halle in "Die Natur"; Broschüren von Geheimrath Meitzen
und Emil Meyer.

Deutschland ist dabei hinter fast allen übrigen Kulturländern in einer
unglaublichen Weise zurückgeblieben. Man ist anfänglich ganz bestürzt und
verdutzt, wenn man Zahlen liest wie folgende: Während England beinahe
1000, Frankreich S62 deutsche Meilen Kanäle gebaut hat, besitzt Preußen
— 47! Die künstlichen Wasserstraßen von England, Frankreich, Belgien
und Holland betragen im Verhältniß 15 mal so viel wie die preußischen.
Und nicht etwa daß Preußen jenen Ländern gegenüber in einem Ueberschuß
an natürlichen Wasserwegen einen Ersatz fände: die Straßen dieser Gat¬
tung, welche England, Frankreich, Belgien und Holland besitzen, verhalten sich
durchschnittlich zu den preußischen wie 17:16. — Wir haben hier eine der
vielen traurigen Folgen vor uns von der Armuth, der Unfreiheit und der
Zersplitterung, in denen wir Jahrhunderte lang gelebt haben. Die Armuth
hat die großen Hohenzollern verhindert, mehr zu thun, und die Unfreiheit
und die Zersplitterung waren die Ursachen, daß unter mittelmäßigen Regenten
nichts von alledem gefördert wurde, was jene bedeutenden Staatsmänner un¬
vollendet lassen mußten.

Lange Zeit haben wir unsern Mangel an Kanälen kaum empfunden.
Als seit den dreißiger Jahren Handel und Industrie den Flug begannen, den
sie jetzt bei uns glücklicherweise nehmen, da kamen bald darauf die Eisen¬
bahnen und monopolistrten das Interesse der Geschäftswelt. Waren sie doch
so schnell, so pünktlich, so unabhängig von Wind und Frost! Den Wasser¬
transport sah man daneben über die Achseln an.

Wenn das seitdem anders und besser geworden ist, so sind wir den
Dank dafür unseren Volkswirthen schuldig. Seit 1869 hat der damals von
Faucher gegründete „Verein zur Hebung der deutschen Kanal- und Flußschiff¬
fahrt" einen Umschwung in den landläufigen Ansichten herbeizuführen begon¬
nen. Ihm danken wir es, daß die Ueberzeugung von der Nothwen¬
digkeit eines Kanalnetzes wieder in das Volksb co ußts e i n
eindringt. Einen Maßstab für das Interesse, welches sich in den letzten
Jahren stetig wachsend dieser wichtigen Seite unserer wirthschaftlichen Ent¬
wicklung zugewandt hat, giebt die bedeutende Anzahl der Bücher, Flugschrif¬
ten, Abhandlungen und Vorträge, welche dem Gegenstand ganz oder theilweise
gewidmet wurden.*) Diese Schriften behandeln die Frage zum Theil aus
verschiedenen Gesichtspunkten: Meitzen und Inspektor Michaelis gehen mehr
auf das Technische ein, Wiß hat vorzugsweise die amerikanischen Verhält¬
nisse im Auge, Karl Müller in Halle empfiehlt die Pflege der Wälder und



") U. a. drei Aufsätze in Fauchcr's Vierteljahrsschrift, von Perrot, Wasserbauinspector
Michaelis und E. Wiß; ein Essay von Perrot, in dessen „Deutscher Monatsschrift für Handel,
Schifffahrt und Verkehrswesen"; ein anderer in Perrot's „Zur Geschichte des Verkehrswesens";
ein Aufsatz von Karl Müller in Halle in „Die Natur"; Broschüren von Geheimrath Meitzen
und Emil Meyer.
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[0170] Deutschland ist dabei hinter fast allen übrigen Kulturländern in einer unglaublichen Weise zurückgeblieben. Man ist anfänglich ganz bestürzt und verdutzt, wenn man Zahlen liest wie folgende: Während England beinahe 1000, Frankreich S62 deutsche Meilen Kanäle gebaut hat, besitzt Preußen — 47! Die künstlichen Wasserstraßen von England, Frankreich, Belgien und Holland betragen im Verhältniß 15 mal so viel wie die preußischen. Und nicht etwa daß Preußen jenen Ländern gegenüber in einem Ueberschuß an natürlichen Wasserwegen einen Ersatz fände: die Straßen dieser Gat¬ tung, welche England, Frankreich, Belgien und Holland besitzen, verhalten sich durchschnittlich zu den preußischen wie 17:16. — Wir haben hier eine der vielen traurigen Folgen vor uns von der Armuth, der Unfreiheit und der Zersplitterung, in denen wir Jahrhunderte lang gelebt haben. Die Armuth hat die großen Hohenzollern verhindert, mehr zu thun, und die Unfreiheit und die Zersplitterung waren die Ursachen, daß unter mittelmäßigen Regenten nichts von alledem gefördert wurde, was jene bedeutenden Staatsmänner un¬ vollendet lassen mußten. Lange Zeit haben wir unsern Mangel an Kanälen kaum empfunden. Als seit den dreißiger Jahren Handel und Industrie den Flug begannen, den sie jetzt bei uns glücklicherweise nehmen, da kamen bald darauf die Eisen¬ bahnen und monopolistrten das Interesse der Geschäftswelt. Waren sie doch so schnell, so pünktlich, so unabhängig von Wind und Frost! Den Wasser¬ transport sah man daneben über die Achseln an. Wenn das seitdem anders und besser geworden ist, so sind wir den Dank dafür unseren Volkswirthen schuldig. Seit 1869 hat der damals von Faucher gegründete „Verein zur Hebung der deutschen Kanal- und Flußschiff¬ fahrt" einen Umschwung in den landläufigen Ansichten herbeizuführen begon¬ nen. Ihm danken wir es, daß die Ueberzeugung von der Nothwen¬ digkeit eines Kanalnetzes wieder in das Volksb co ußts e i n eindringt. Einen Maßstab für das Interesse, welches sich in den letzten Jahren stetig wachsend dieser wichtigen Seite unserer wirthschaftlichen Ent¬ wicklung zugewandt hat, giebt die bedeutende Anzahl der Bücher, Flugschrif¬ ten, Abhandlungen und Vorträge, welche dem Gegenstand ganz oder theilweise gewidmet wurden.*) Diese Schriften behandeln die Frage zum Theil aus verschiedenen Gesichtspunkten: Meitzen und Inspektor Michaelis gehen mehr auf das Technische ein, Wiß hat vorzugsweise die amerikanischen Verhält¬ nisse im Auge, Karl Müller in Halle empfiehlt die Pflege der Wälder und ") U. a. drei Aufsätze in Fauchcr's Vierteljahrsschrift, von Perrot, Wasserbauinspector Michaelis und E. Wiß; ein Essay von Perrot, in dessen „Deutscher Monatsschrift für Handel, Schifffahrt und Verkehrswesen"; ein anderer in Perrot's „Zur Geschichte des Verkehrswesens"; ein Aufsatz von Karl Müller in Halle in „Die Natur"; Broschüren von Geheimrath Meitzen und Emil Meyer.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/170>, abgerufen am 25.05.2024.