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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Lampenlicht. Trotz der andauernden (20 Grad) Kälte, die gerade im ersten
Frühjahr in Ostgrönland am stärksten ist, und oft bis 28°, einmal über 32"
stieg, erfreuten sich die Männer doch der schon fühlbaren Sonnenwärme, wie
man es daheim in den ersten warmen Februar- oder Märztagen thut.

So konnte denn die erste Frühjahrsschlittenreise beginnen. Bis zum
7. März waren alle Vorbereitungen getroffen, die ausgeführten Probefahrten
befriedigend ausgefallen. Am 8. März setzte sich die Kolonne von sechs Mann
in Bewegung, unter Führung von Koldewey und Payer. Doch schon die
rasenden Schneestürme der nächsten Tage nöthigten zur Umkehr nach dem
Schiff, und erst am 24. März durfte die Schlittenreise von neuem gewagt
werden. Diesmal war das Ziel derselben die Erreichung einer möglichst hohen
nördlichen Breite an der ostgrönländischen Küste. Die tapferen Männer
hofften bis zum 80. Grad und darüber vordringen zu können; sie erreichten
jedoch, unter den unsäglichsten Leiden und Entbehrungen, namentlich nach un-
endlich qualvollen Nächten in dem eisstarrenden Zelt, nach den äußersten
Leistungen in Hunger und Durst, dem männlichsten Ertragen von Schnee¬
blindheit, Dysenterie und gefrorenen Gliedmaßen nur eine Höhe von 77,1°
Indessen auch hier war vor ihnen noch niemals der Fuß eines Menschen ge¬
wandelt. "König-Wilhelms-Land" wurde das jungfräuliche Nordende ihrer
heldenmüthigen Reise genannt, und hier unter dem friedlichen Nebeneinander¬
wehen der Norddeutschen und Oesterreichischen Flagge ein Cairn (Steinpyra¬
mide) errichtet, der wohl unverrückt und nie wieder gesehen bis ans Ende
der Zeiten stehen wird- In demselben wurde in einer Dose ein kurzer Reise¬
bericht niedergelegt. Dieses Document lautet: "Diesen Punkt, der auf 77°
1' nördl. Breite und 18° 50' westl. Länge von Greenwich liegt, erreichte die
deutsche Polarexpedition zu Schlitten (die letzten drei deutschen Meilen zu
Fuß) vom Winterhasen auf Sabine-Insel nach einer Abwesenheit vom Schiffe
von 22 Tagen. Die Stürme, die während acht Tagen ein Stillliegen im
Zelte nöthig machten und die theilweise großen Schwierigkeiten des Weges,
wie der eintretende Mangel an Proviant, verhinderten ein weiteres Vordringen.
Die Küste, die nach Osten zu schroff abfällt, erstreckt sich in einem Plateau
von etwa 1500 Fuß weiter nach Norden. Das Meer, soweit man sehen
konnte (etwa 12 deutsche Meilen), bot nur eine einzige ununterbrochene Eis¬
fläche dar. Das Landeis, welches gänzlich ohne Höcker ist und allem Anschein
nach mehrere Jahre festlag, erstreckte sich mindestens zwei deutsche Meilen von
der Küste. Das Wetter war sehr klar, vorzüglich nach Osten über See, wo
auch weiterhin kein Anzeichen von Wasser zu bemerken war. Charfreitag,
16. April 1870. Karl Koldewey. Commandant der Expeditton. Julius Payer,
Oberleutenant. Th. Klentzer, Peter Ellinger, Matrosen."

Die Leiden dieser Reise übertrafen, nach der Erinnerung aller Theilnehmer


Lampenlicht. Trotz der andauernden (20 Grad) Kälte, die gerade im ersten
Frühjahr in Ostgrönland am stärksten ist, und oft bis 28°, einmal über 32"
stieg, erfreuten sich die Männer doch der schon fühlbaren Sonnenwärme, wie
man es daheim in den ersten warmen Februar- oder Märztagen thut.

So konnte denn die erste Frühjahrsschlittenreise beginnen. Bis zum
7. März waren alle Vorbereitungen getroffen, die ausgeführten Probefahrten
befriedigend ausgefallen. Am 8. März setzte sich die Kolonne von sechs Mann
in Bewegung, unter Führung von Koldewey und Payer. Doch schon die
rasenden Schneestürme der nächsten Tage nöthigten zur Umkehr nach dem
Schiff, und erst am 24. März durfte die Schlittenreise von neuem gewagt
werden. Diesmal war das Ziel derselben die Erreichung einer möglichst hohen
nördlichen Breite an der ostgrönländischen Küste. Die tapferen Männer
hofften bis zum 80. Grad und darüber vordringen zu können; sie erreichten
jedoch, unter den unsäglichsten Leiden und Entbehrungen, namentlich nach un-
endlich qualvollen Nächten in dem eisstarrenden Zelt, nach den äußersten
Leistungen in Hunger und Durst, dem männlichsten Ertragen von Schnee¬
blindheit, Dysenterie und gefrorenen Gliedmaßen nur eine Höhe von 77,1°
Indessen auch hier war vor ihnen noch niemals der Fuß eines Menschen ge¬
wandelt. „König-Wilhelms-Land" wurde das jungfräuliche Nordende ihrer
heldenmüthigen Reise genannt, und hier unter dem friedlichen Nebeneinander¬
wehen der Norddeutschen und Oesterreichischen Flagge ein Cairn (Steinpyra¬
mide) errichtet, der wohl unverrückt und nie wieder gesehen bis ans Ende
der Zeiten stehen wird- In demselben wurde in einer Dose ein kurzer Reise¬
bericht niedergelegt. Dieses Document lautet: „Diesen Punkt, der auf 77°
1' nördl. Breite und 18° 50' westl. Länge von Greenwich liegt, erreichte die
deutsche Polarexpedition zu Schlitten (die letzten drei deutschen Meilen zu
Fuß) vom Winterhasen auf Sabine-Insel nach einer Abwesenheit vom Schiffe
von 22 Tagen. Die Stürme, die während acht Tagen ein Stillliegen im
Zelte nöthig machten und die theilweise großen Schwierigkeiten des Weges,
wie der eintretende Mangel an Proviant, verhinderten ein weiteres Vordringen.
Die Küste, die nach Osten zu schroff abfällt, erstreckt sich in einem Plateau
von etwa 1500 Fuß weiter nach Norden. Das Meer, soweit man sehen
konnte (etwa 12 deutsche Meilen), bot nur eine einzige ununterbrochene Eis¬
fläche dar. Das Landeis, welches gänzlich ohne Höcker ist und allem Anschein
nach mehrere Jahre festlag, erstreckte sich mindestens zwei deutsche Meilen von
der Küste. Das Wetter war sehr klar, vorzüglich nach Osten über See, wo
auch weiterhin kein Anzeichen von Wasser zu bemerken war. Charfreitag,
16. April 1870. Karl Koldewey. Commandant der Expeditton. Julius Payer,
Oberleutenant. Th. Klentzer, Peter Ellinger, Matrosen."

Die Leiden dieser Reise übertrafen, nach der Erinnerung aller Theilnehmer


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[0344] Lampenlicht. Trotz der andauernden (20 Grad) Kälte, die gerade im ersten Frühjahr in Ostgrönland am stärksten ist, und oft bis 28°, einmal über 32" stieg, erfreuten sich die Männer doch der schon fühlbaren Sonnenwärme, wie man es daheim in den ersten warmen Februar- oder Märztagen thut. So konnte denn die erste Frühjahrsschlittenreise beginnen. Bis zum 7. März waren alle Vorbereitungen getroffen, die ausgeführten Probefahrten befriedigend ausgefallen. Am 8. März setzte sich die Kolonne von sechs Mann in Bewegung, unter Führung von Koldewey und Payer. Doch schon die rasenden Schneestürme der nächsten Tage nöthigten zur Umkehr nach dem Schiff, und erst am 24. März durfte die Schlittenreise von neuem gewagt werden. Diesmal war das Ziel derselben die Erreichung einer möglichst hohen nördlichen Breite an der ostgrönländischen Küste. Die tapferen Männer hofften bis zum 80. Grad und darüber vordringen zu können; sie erreichten jedoch, unter den unsäglichsten Leiden und Entbehrungen, namentlich nach un- endlich qualvollen Nächten in dem eisstarrenden Zelt, nach den äußersten Leistungen in Hunger und Durst, dem männlichsten Ertragen von Schnee¬ blindheit, Dysenterie und gefrorenen Gliedmaßen nur eine Höhe von 77,1° Indessen auch hier war vor ihnen noch niemals der Fuß eines Menschen ge¬ wandelt. „König-Wilhelms-Land" wurde das jungfräuliche Nordende ihrer heldenmüthigen Reise genannt, und hier unter dem friedlichen Nebeneinander¬ wehen der Norddeutschen und Oesterreichischen Flagge ein Cairn (Steinpyra¬ mide) errichtet, der wohl unverrückt und nie wieder gesehen bis ans Ende der Zeiten stehen wird- In demselben wurde in einer Dose ein kurzer Reise¬ bericht niedergelegt. Dieses Document lautet: „Diesen Punkt, der auf 77° 1' nördl. Breite und 18° 50' westl. Länge von Greenwich liegt, erreichte die deutsche Polarexpedition zu Schlitten (die letzten drei deutschen Meilen zu Fuß) vom Winterhasen auf Sabine-Insel nach einer Abwesenheit vom Schiffe von 22 Tagen. Die Stürme, die während acht Tagen ein Stillliegen im Zelte nöthig machten und die theilweise großen Schwierigkeiten des Weges, wie der eintretende Mangel an Proviant, verhinderten ein weiteres Vordringen. Die Küste, die nach Osten zu schroff abfällt, erstreckt sich in einem Plateau von etwa 1500 Fuß weiter nach Norden. Das Meer, soweit man sehen konnte (etwa 12 deutsche Meilen), bot nur eine einzige ununterbrochene Eis¬ fläche dar. Das Landeis, welches gänzlich ohne Höcker ist und allem Anschein nach mehrere Jahre festlag, erstreckte sich mindestens zwei deutsche Meilen von der Küste. Das Wetter war sehr klar, vorzüglich nach Osten über See, wo auch weiterhin kein Anzeichen von Wasser zu bemerken war. Charfreitag, 16. April 1870. Karl Koldewey. Commandant der Expeditton. Julius Payer, Oberleutenant. Th. Klentzer, Peter Ellinger, Matrosen." Die Leiden dieser Reise übertrafen, nach der Erinnerung aller Theilnehmer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/344>, abgerufen am 26.05.2024.